"Kreuzverhüllung"

"Gesetzt den Fall, sie haben noch keinen umgebracht, womit erklären sie sich das?"

Goddhard Fuchs 28. Februar 1999 Akademie Rabanus Maurus Wiesbaden

Kunstinstallation in der St. Karl Borromäus Kirche Winnenden

Die Kreuzverhüllung 1999 (Fotos Karin Mueller Leonberg)

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Liebe Schwestern und Brüder,
In dem Tagebuch eines modernen Schriftstellers sind eine ganze Reihe von Fragen zur Gewissenserforschung aufgelistet, wie wir sie aus der alten, fast verlorenen Beichtpraxis kennen, Fragen, wie wir umgehen mit dem Geld, wie wir miteinander umgehen als Mann und Frau, wie umgehen mit Krankheit, mit Glück, mit dem Humor, mit der Ironie. Mittendrin steht eine Frage, die uns nachdenklich machen und uns helfen mag, das Geheimnis des gekreuzigten Auferstandenen, den österlichen Karfreitagsglauben neu zu entdecken. Da fragt dieser Max Frisch nämlich: "Gesetzt den Fall, sie haben noch keinen umgebracht, womit erklären sie sich das?

Das mag Sie vielleicht genauso schockieren wie mich, weil wir ja immer das Gute wollen, weil wir ja selbstverständlich denken: das tun ja, wenn schon, die anderen. Aber jetzt einmal gesetzt den Fall, Sie, ich, wir haben noch keinen umgebracht: Womit erklären sie sich das? Ist das Mangel an Gelegenheit? Oder ist das entschiedene Überzeugung, den anderen zu lieben wie mich selbst? Wo wäre ich im Kosovo? Im Bosnien-Konflikt? Wie hätte ich mich in der Nazizeit verhalten? Gewalt, Gewalttätigkeit ist vielleicht eines der zentralen Probleme der Menschheitsgeschichte und besonders dieses Jahrhunderts mit seinen Weltkriegen, seiner verfluchten Perfektionierung der Folter, mit der schleichenden und offenbaren Gewalttätigkeit, zum Beispiel ja auch in unserer Gesellschaft: man kann ja andere umbringen nicht gleich mit einer Waffe, sondern auch mit einem Schlagwort, oder mit einer Verläumdung, oder mit einer Herabsetzung.

Liebe Brüder und Schwestern, es besteht eine große Gefahr vielleicht gerade in unseren christlichen Kreisen, daß wir das Gewaltpotential, das in der Gesellschaft, und in uns selbst sitzt, verhüllen, und daß wir diese gewaltige Wucht, den Stein der Gewalttätigkeit, der auf der Menschheit lastet seit Kain und Abel, zwar aus der Ferne wahrnehmen, daß wir zwar gucken, wo Gewalttätigkeit ist - jeden Tag im Fernsehen, in der Zeitung und sonstwo - wir dagegen, ja wir, wir wollen ja immer nur das Gute, und den Nächsten lieben wie uns selbst. Sicher keiner hier, der jemanden umbringen will.

Ja, aber: dann sind es immer die anderen, und wir sind angeblich aus dem Schneider. Wir verhüllen das Ausmaß unserer eigenen kainitischen Gewalttätigkeit, und die Kraft der Bibel, die Kraft des Gottesglaubens, die Kraft des österlichen Glaubens ist es gerade, das was wir verhüllen und verdrängen, weil wir angeblich immer das Gute tun, und da die anderen ja immer die Bösewichter sind, weil wir es hier im Raum des Gottesglaubens endlich enthüllt, und aufgedeckt, offenbart sehen, damit anders damit umgehen können. Wir brauchen uns nicht mehr in die Tasche lügen. Das ist eine große Gefahr bei den sogenannten Anständigen, bei den Gutwollenden. Wer will nicht immer ein Wohltäter sein? Natürlich: jeder von uns will immer das Gute. Aber schon Paulus sagt: Ja, wer bin ich denn?! Das Gute, was ich will, das tue ich nicht, und das Böse, was ich nicht will, das tue ich doch! Ganz abgesehen von dem Ozean des Guten, das wir tun sollten, und unterlassen: "... Gutes unterlassen und Böses getan...".

Die Tendenz ist, daß wir das Gute an uns und an den anderen akzeptieren, aber dieses Gewaltpotential, dieses zerstörerische Aggressionspotential in uns verhüllen, verblenden. Es muß aber sichtbar gemacht werden, ja christlich im Glauben an den lebendigen Gott, welcher mitten in den Gewalt- und Leidensgeschichten, in den Vergewaltigungs- und Leidensgeschichten der Menschheit eine Gegengeschichte der Gewaltlosigkeit, der Feindesliebe, der wirklichen Feindesliebe eröffnet.

Und: wirklich den Nächsten lieben wollen, können, vor allem auch den feindlichen Nächsten, nicht nur den netten Nachbarn und die Nachbarin, schon den Nächsten lieben wollen, geht nur, wenn wir im Raum von Gottes zuvorkommendem Erbarmen uns konfrontieren lassen mit dem, was wir sind: allesamt Söhne und Töchter Kains.

Die Geschichte der Geschwisterlichkeit, die Geschichte der Zivilisation, die Geschichte der Menschwerdung beginnt nach der Bibel bekanntlich mit einem Mord. So sind wir. Das muß nicht gleich blutig sein. Zur Zeit haben wir ja hier Gott sei Dank ein relativ privilegiertes Leben. Aber wenn die Ressourcen knapper werden, wenn es zum "Über-Leben" kommt, dann kommen auch die Kräfte des Nahkampfs, der Kampf ums Leben, der Konkurrenz, der Rivalität erst richtig heraus. In den Schreckenszonen, den Schmerzzonen der Welt, ja auch bei uns in Deutschland zwischen Ost und West, die Drogenszene, die Kriminalität und so fort, das sind doch nicht nur die anderen! Wir alle sind in einem unglaublichen Gewaltzusammenhang, den wir aber kaum aushalten, und deshalb verdrängen müssen. Und eine besondere Form der Verdrängung ist die, daß wir immer so tun, als wollten wir gerade immer nur das Gute.

Ist das aber wahr, daß wir immer nur den Nächsten lieben wollen? Wollen wir ihn nicht auch einmal in den Hintern treten, oder um die Ecke bringen? Jedenfalls mit Worten, nicht gleich mit Taten? Liebe Schwestern und Brüder, die Bibel, unser Glaube an den lebendigen Gott, ist eine einzige Einladung, diesen Verdrängungs-, diesen Verblendungszusammenhang, den Verlogen-heits-zusammenhang endlich zu enthüllen., aufzudecken und im Zeichen des Gekreuzigten uns anzuschauen als die, die wir sind.

In keiner Religion, in keiner, steht so wie in der biblischen und christlichen im Mittelpunkt des Gottesglaubens der Mensch, der das Opfer von Mitmenschen wurde. Der Mensch, der das Opfer von mitmenschlicher Gewalt wurde und wird. Und christlich glauben an ihn, heißt, das Ausmaß menschlicher Gewalt nicht länger verdrängen zu müssen und dem Wahn des guten Wollens, der Verblendung, daß wir immer schon das Gute wollen, zu entkommen und das im Raum von Gottes zuvorkommender Liebe anzuschauen, was wir sind: Wohltäter und Übeltäter. Solche, die lieben wollen, und doch gewalttätig sind.

Dieses Jahrhundert ist das Jahrhundert der Gewalt in besonderer Weise: Ich nenne nur die Konzentrationslager und so fort. In keinem Jahrhundert ist der Schrei nach Gewaltlosigkeit, nach einer Kultur der Liebe, nach einer Kultur der Feindesliebe, so dringlich. Aber woher die Kraft nehmen, woher den Mut finden? Woher die Ressourcen nehmen, um in diesem verfluchten Spiel der Gewalt und Gegengewalt nicht mitzuspielen, und auszusteigen und in der Gegengeschichte schöpferischer Feindesliebe auch dann preiszugeben, wenn man an den Rand gerät, oder blöd dasteht, oder ein Außenseiter wird. Die Kraft dazu liegt einzig für uns Christen im Blick auf den Gekreuzigten.

Wir rühmen uns des gekreuzigten Christus, nicht weil wir ins Leiden verliebt sind, nicht weil wir gewaltsüchtig sind, sondern weil wir hier endlich anschauen können, wer wir sind, ohne verdrängen und ohne verzweifeln zu müssen. Denn wer hält das schon aus, sich wirklich in den Spiegel zu gucken? Wer hält das schon aus? Natürlich, in bürgerlicher Wohlanständigkeit ist das alles nicht so offenbar, aber die Decke der Zivilisation ist dünn. Und darunter droht es an Gewalt, an Haß, vielleicht schon in der Nachbarschaft, vielleicht schon am Ort, erst recht hier in der Gesellschaft, erst recht in der Weltgesellschaft, ganz zu schweigen von der Gewalt gegen die Natur, gegen den Kosmos. Gewalt ist das Problem, behaupte ich. Und die Kraft des Kreuzesglaubens zeigt sich nirgends deutlicher als hier, wo sie das, was verhüllt ist, enthüllt, und das, was enthüllt ist, verhüllt und einwirkt in einen Wandlungsprozeß. Liebe Schwestern und Brüder, das Kreuz Jesu Christi ist der Ort, an dem beides für uns offenbar wird: das, was wir sind, und das, was Gott ist.

Jesus war nicht scharf darauf, ans Kreuz zu kommen, weiß Gott nicht. Aber er hat so konfliktfähig gewaltlos gelebt, daß man ihn ans Kreuz schlug. Und nun wird an ihm, an unserem Bruder aus Nazareth deutlich, wer wir sind, und wer Gott ist. Gott sei Dank. Er ist der Abgrund nicht nur von vergebender Liebe, sondern von vergebender Feindesliebe. Er kommt uns so zuvor, weil er weiß, daß wir Staub sind. Weil wir alle Söhne und Töchter Kains sind. Er kommt uns entgegen in dem neuen Adam, Jesus aus Nazareth, Jesus Christus. In ihm zeigt er uns, wie das gehen sollte: Mensch werden nach seinem Bild und Gleichnis, verwandelt zu werden in diesem verfluchten Gewaltzusammenhang, ihn aufzudecken, ihn anzuschauen und dadurch uns verwandeln zu lassen.

Liebe Schwestern und Brüder, das feiern wir hier, denn auf den Tisch des Hauses kommt im Zeichen des Gekreuzigten, des Auferstandenen, alles, was wir sind - das Gute, das wir wollen, das Böse, was wir tun, das Gute, das wir unterlassen. Hier geschieht Verwandlung, nicht durch Verdrängung, sondern durch Enthüllung. Das, was wir so gerne verhüllen möchten, wird hier enthüllt, und das, was wir alleine kaum aushalten, wird verhüllt und geborgen im Geheimnis Jesu Christi, im Geheimnis des lebendigen Gottes. Das Kreuz Jesu ist deshalb nicht ein Zeichen der Leidverliebtheit. Das werfen uns ja viele vor. Nein, das Zeichen des Kreuzes ist das österliche Hoffnungszeichen, weil wir dadurch eingeladen werden, die Gewalt der Welt, der Menschen und unserer selbst anzuschauen und verwandeln zu lassen, und in solch einer Feier neu, in der österlichen Bußzeit neu, und in der Osternacht neu verwandelt herauszugehen, und nun eine Antwort zu wissen auf die Frage des Dichters: "Gesetzt den Fall, sie haben noch keinen umgebracht, womit erklären sie sich das?"

Das ist dann nicht nur Mangel an Gelegenheit. Das ist - mit der Bitte um Vergebung und im festen Glauben an den erbarmenden, gewaltlos vergebenden Gott - die Kraft unseres Osterglaubens. Sie befähigt uns, nicht länger "Blinde Kuh" zu spielen, sondern bei uns selbst anzufangen und zu schauen, wo sind wir, versteckt oder offenbar, unversöhnt, voller Haß, voller Gewalt, und wo ist vielleicht das Ganze nur locker überdeckt mit einer Schicht von frommer Anständigkeit und gutem Willen, ein bißchen Nächstenliebe und so fort, aber darunter brodelt es?

Liebe Schwestern und Brüder, das soll heraus. Das darf heraus. Das muß auf den Tisch des Hauses! Dann geschieht das Geheimnis der Wandlung. Dann essen wir im gebrochenen Brot unsere eigene versöhnte Geschichte. In seinem Namen und in der Kraft österlichen Glaubens. Und dann geschieht Enthüllung dessen, was wir verhüllen, und Offenbarung, und behütende Verhüllung dessen, was wir sind, im Schoß und im Herzen des lebendigen Gottes.
Amen.

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