Kunst, Chaos, Struktur

Bunsen und Kränzlein in der Spacetime-Studios Galerie Winnenden

Helge Bathelt 1997

Lithographie von FD Bunsen, Plastik von D.Kränzlein

ehemals Spacetime Studios

Plastik von Dieter Kränzlein

Lithographie von FD Bunsen

Die Arbeiten Frederick Bunsens und Dieter Kränzleins

Paul Tiedemanns
Schwarzen Locher
De Stijl

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Die Arbeiten Frederick Bunsens und Dieter Kränzleins als Beiträge zur seelischen Kostendämpfung der Pathologie unserer Gegenwart:
Referat in den Räumen des ehemaligen Kunstvereins, Stonehinge e.V. im Spacetime Studios, Bahnhof der Stadt Winnenden, 19. September 1997

VORSPANN: Die immerwährende Party der Kunst ist vorbei! Es wird wieder gearbeitet und gedacht und es werden Anforderungen gestellt. Die Kunst hat ab sofort aufgehört, die Kulisse für die "Bussi-Gesellschaft" zu sein. Die Kunst widmet sich gesellschaftlichen Aufgaben wieder. Sie erringt eine neue Relevanz, weil sie auf einen neuen gesellschaftlichen Bedarf stößt. Ihre verschütteten Möglichkeiten werden an die Oberfläche gehoben: ohne oberflächlich zu werden. Es wird wieder gearbeitet und gedacht!

Das Beispiel: "Nehmen wir an, es gäbe in der Tiefsee Fische, die Verstand und Bewußtsein wie Menschen hätten. Hätten diese Fische auch ein Bewußtsein von dem Wasser, in dem sie leben? gewiß nicht. Denn um ein Bewußtsein von etwas haben zu können, muß man über die Erfahrung der Abwesenheit dieses Etwas verfugen; man muß zur Unterscheidung fähig sein. Die Fische der Tiefsee haben keine Erfahrung von einer Umgebung, die nicht aus Wasser besteht. Sie können daher keinen Begriff und kein Bewußtsein von Wasser haben. Ebenso kann es sich mit dem Sinn des Lebens verhalten. Menschen, die ein sinnvolles Leben fuhren, brauchen nicht die geringste Vorstellung davon zu haben, was der Sinn des Lebens sei. Erst wenn sie Erfahrung der Sinnleere oder jedenfalls der Fragwürdigkeit dessen spüren, was bisher der Sinn des Lebens war, sind sie überhaupt in der Lage, den Lebenssinn zum Objekt ihres Nachdenkens zu machen. Wer einen Begriff von Lebenssinn hat, muß bereits eine Sinnkrise erlebt haben, andernfalls weiß er nicht, wovon die Rede ist."

Verlassen wir an dieser Stelle das Buch Paul Tiedemanns "Über den Sinn des Lebens", aus dem wir eben zitiert haben. Tiedemann gibt uns Anlaß zum Nachdenken. Wir wissen nämlich: wovon die Rede ist. Wir leben in einer Zeit, in der der Sinn des Lebens zur Frage wird. Wir leben in einer Zeit der Sinnkrise.

1. Die prästabilisierte Harmonie unseres Weltverständnisses ist außer Funktion gesetzt, denn wir haben unsere Religion verloren.
2. Unsere Lebensorganisation ist ins unseres Funktion ist ins Wanken geraten, denn für immer mehr Menschen ist der Lebenssinn "Arbeit" nicht mehr verfügbar.
3. Unsere Rollenbilder sind verunsichert, denn uns werden ständig neue und außergewöhnliche Rollen in der Partnerschaft, in der Familie, in Gesellschaft abverlangt.

Auf all der diese Herausforderungen reagieren wir mit Angst. Diese Angst richtet sich auf keine konkrete Gefahr, sondern sie ist zu einem eigentümlich unbestimmten Lebensgefühl geworden, das aller Furcht vorausgeht, die uns dann überfallt, wenn unsere Ängste konkret geworden sind, wenn die Arbeitslosigkeit auf uns zutrifft, wenn unsere Partnerschaft gescheitert ist, wenn wir neuen Standards nicht mehr entsprechen.

Kunst funktioniert: Wer nun meint, daß dies alles nichts mit Kunst zu tun hat, der irrt. Ein solcher Irrtum übersieht zwei Funktionen von Kunst:
- nämlich einmal ihre Fähigkeit, Entwicklungen vorauszusehen und im Kunstwerk zu manifestieren.
- Zum anderen, Antworten auf die Frage nach dem Lebenssinn zu geben, die es uns erleichtern zu eigenen neuen Bestimmungen unseres Lebenssinns vorzudringen.

Dies kann ganz einfach geschehen und zwar dann: wenn Kunst der Angst die Freude entgegensetzt, der Bedrängnis die Freiheit, der Norm die Phantasie. Andererseits bleibt der Kunst keine Wahl. Sie kann weder in den schließlich schon besetzten Bildern der Tradition verharren: noch kann sie ihr Publikum ewig überanstrengen. Der Ausweg in der Kunst liegt in ihrer Veröffentlichung, in der fortwährenden Übersetzung ihrer Gehalte, d.h. in einer Seh- und Denkschule, die die unbesetzten Ausdrucksformen für das Volk öffnet. Zu diesem Weg gibt es keine betuliche Alternative, denn - wie es Grieshaber so wunderbar formuliert hat: "Es gibt keinen Wein für arme Leute, nur guten Wein!"

Solche Alternativen finden wir in jeder Kunst. Wir müssen sie wahrnehmen. Wenn wir zu dieser Wahrnehmung nicht mehr fähig und bloß noch Gefangene in unserer Bedrängnis sind, dann haben wir einen Eckpfeiler unseres Menschseins verloren. So gesehen ist es kein Wunder, daß totalitäre Regime immer gegen die Freiheit der Künste votiert haben und wir sollten sorgsam beobachten, wenn der Kunst Möglichkeiten zu ihrer Entfaltung beschnitten werden.

Erfüllen die Arbeiten von Frederick Bunsen und die Plastiken von Dieter Kränzlein eine solche Funktion? Ich meine ja: auch wenn sie es in ganz unterschiedlicher Weise tun. Frederick Bunsen verweist auf den obsessiven Charakter unserer Alltagswelt. Das wird augenfällig in seinem Doppelblatt, das seine Serie "Schwarzer Locher" zum Höhepunkt gebracht und abgeschlossen hat.

Eine erste Betrachtung wird - auch angesichts der Binnenzeichnung und den Bearbeitung der Randzonen - die Figuration als eine schwarze Sonne verstehen. Die Arbeit wird dann zum Sinnbild einer enttäuschten Gnosis.

Wer aber über die "Schwarzen Locher" der Astronomie Bescheid weiß, wird die Figuration als einen transitorischen Raum begreifen, als eine "per aspera ad astra" positiver Zukunftssicht, das eine Hilfe darstellt, um die Bedrängnisse des Hier und Heute zu transzendieren.

Bei Dieter Kranzlein stoßen wir auf die Darstellung einer dialektischen Spannung. Er selbst schreibt dazu: "Einem Schnitt, als Frage oder Antwort, folgt der Nächste wiederum als Frage oder Antwort."

Um den Stab der Logik - der auch als Symbol axiomatischer Systeme betrachtet werden kann - um diesen Stab haben sich die Kerben der Fragen und Antworten angesiedelt und ein Paradigma gebildet, das eine sich selbst bestätigende Tatsachlichkeit ausweist. In der Betrachtung erfahren wir etwas über die Entstehung des Paradigmas eben als eines Ergebnisses von Fragen, Antworten und ihrer Erstarrung. Die Betrachtung im Werk eröffnet die Option neue Fragen zu stellen und neue Antworten zu geben außerhalb des paradigmatisch bereits Vereinbarten. Die Arbeit enthält die Aufforderung das scheinbar Gewußte zu transzendieren.

Geistiges Einzugsgebiet und formales Ergebnis: Kunst erfüllt nun ihre Funktion der der Sinnstiftung dann wenn die Beziehung Künstler und Werk nicht selbstreferentiell [1] ist, sondern einen Prozeß der Kommunikation auslost. Dieses auslosende Moment hat in der Entwicklung der Kunst seine Selbstverständlichkeit verloren. Um dieses Problem zu verdeutlichen bedienen wir uns einer Betrachtung, die wir bei Beat Wyss in seinem bemerkenswerten Band "Der Wille zur Kunst. Zur ästhetischen Mentalität der Moderne" gefunden haben. Wyss schreibt: "Die Auffassung der Nachkriegszeit über das, was modern ist, beruht auf der Abspaltung Einzugsgebiete von den formalen Ergebnissen".

Richtig ist die Internationalisierung der Kunst als ein Ergebnis des Weltkrieges, also letztlich der Wille zu einer gemeinsamen Sprache ähnlich wie es De Stijl schon nach dem ersten Weltkrieg versucht hatte. Betrachten wir die Produktionen der abstrakt Expressiven, der Tachisten, der Informellen, so erkennen wir den intensiven Bezug gegenstandsfreie Emotionen zum Programm zu machen und durch die Kehrung des Inneren nach Au&zslig;en einen Gestus der Entwaffnung und Veröffentlichung zu zelebrieren. Dieser reine Umgang mit Befindlichkeit und extreme Subjektivismus deckt sich kaum mit der Rezeptionsfähigkeit eines Publikums, das seinen geistigen Einzugsbereich nie phantasievoll zu transzendieren gelernt hat. Die Produkte einer solchen Kunst bleiben also ihren Rezipienten fremd. Die Kunst gerät ins Ghetto der Kundigen und Phantasiebegabten.

Ein Publikum, das beispielsweise lernt: aus den Kerben Kränzleins ein System von Frage und Antwort zu lesen und ein Publikum, das lernt, das paradigmatranszendierende Potential in den Arbeiten Frederick Bunsens zu erkennen: wird frei: aus der Bedrängnis der Alltags zu treten: weil es Alternativen denken kann und eben dies ist der Weg jedem Chaos Struktur zu verleihen.

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Fußnotiz

1. Hier wird weder das selbstreferentielle Moment des Systems noch der selbstreferentielle Ausdruck der Kunstform impliziert. Viel mehr wird auf eine Selbstzweck in der Beziehung zum Künstler und/oder zum Werk hingewiesen, womit eine freie und lebendige Kommunikation verhindert wird (Kommentar F.Bunsen).  

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