Frederick Bunsen anders betrachtet

Martha Götz 1999

Frederick Bunsen

Frederick Bunsen
Ohne Titel 1992, ca. 180 cm x 120 cm, Acryl auf Leinwand

Fußnotizen

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"Das müßte gar eine schlechte Kunst sein, die sich auf einmal fassen ließe, deren Letztes von demjenigen gleich geschaut werden könnte, der zuerst hereintritt" sagt Goethe.1 Frederick Bunsens Bilder sind "auf den ersten Blick nicht erfaß- oder erklärbar" sagt Rudolf Wesner.2 Wir betreten diese Räume, sehen die Bilder, als erstes können sie uns anlächeln, erschrecken, einfach gefallen oder auch nicht gefallen. Wir mögen uns bei der einen oder anderen Form fragen: "wie ist der Künstler denn wohl darauf gekommen?" oder "da hat der Künstler aber Emotionen im Bild abgelassen!". Doch lassen wir uns auf ein Bild ein, wird das Zweite, von dem Goethe spricht, lebendig. Hier, bei Frederick Bunsens Bildern ist es geradezu mächtig.

Zunächst sehen wir im Bild einen wilden gestischen Pinselstrich, des weiteren eine geometrische Form oder eine lineal-gerade Linie, und schließlich etwas Drittes, Sprengsel, absichtliche Kleckse oder flächige Flecken. Schauen wir länger hin, entsteht im Bild ein Raum, nein, eine Tiefe in derartiger Dreidimensionalität, daß sie verblüfft, denn: wie kann sie entstehen, sind doch "nur" die besagten drei Elemente auf dem Bild:

Durch sie erhalten Bunsens Bilder ihre Identität, drei kombinierte Module konstituieren Tiefe und ihre Bedeutung: gestisch-emotional-wilder Pinselstrich, geplant-Gestricheltes verknüpft mit Geometrischem. Verkürzt gesagt sind die drei "Spontanes, Nichtspontanes und Aufgesetztes" (Bunsen3).

Im Sinn des Differenzmodells, dessen einzelne Module zusammengefügt ein neues Ergebnis vorweisen, das ohne die Einzelteile nicht möglich wäre, sieht Bunsen darin ein wichtiges "Moment der Erkenntnis".4 Doch in wie auch jenseits seiner Systemtheorie bleiben es: drei Teile, wären's mehr, sagt Bunsen, "wäre das Auge überfordert".5

In dieser einzigartigen Kombinatorik liegt der Schlüssel zum aktuellen Werk des international renommierten Künstlers. Einzelne Elemente davon kennen Sie aus der Konzeptkunst oder aus spontaner Malerei, beispielsweise bei Action painting. Ist Konrete Kunst als geometrisch-abstrakte Malerei nach mathematischen Regeln aufgebaut, daß sich Farbe und Fläche in der reinen Selbstaussage demonstrieren, wollen bei der Gestischen Malerei heftige Erlebnisse der Künstler ungehemmt dargestellt sein, und gelten so "als Ausdruck von Individualität gepaart mit der Zufälligkeit des Augenblicks".6

Doch die hier gezeigte, gewollte, also nicht zufällige Kombination ist neu. Die Mischung macht's: Bunsen faßt es zusammen: "Begrenzung durch Fläche - Konzeptkunst plus Spontanes - Mathematik plus Chaos (...) diese Welten ergeben Raum und Zeit - ein wunderbares Ergebnis".7

Die Kunst, "Tiefe sichtbar zu machen" (Luhmann)8 kann nicht allein in reflektiertem malerischen Können liegen, sie hat einen philosophisch-soziologischen Überbau, der uns weiteren Zugang zu den Bildern schenkt: er kann uns erschaudern lassen, er deutet uns Unendlichkeit an, aber er beläßt es nicht dabei: er ermöglicht Darstellung von Raum und Zeit. Was bedeutet das? Raum und Zeit - sind für uns im Computerzeitalter unwegdenkbare Konstituenten unseres Daseins. Bunsen gelingt es, dem für uns doch unbeschreibbar Wesenlosen Form zu geben und darüber hinaus es in Beziehung zueinander zu setzen! So begrenzt ein scheinbar endlicher Raum, also beispielsweise ein geometrischer Kubus einen scheinbar endlichen Flecken, der sich darin befindet. Doch auf den zweiten Blick erhält der Fleck unendliche Tiefe, d.h. die Zusammenstellung bewirkt das Paradox, daß eine grenzenlose Tiefe in einem begrenzten Raum existieren kann! Ein "Fixstrich" fängt das Spontane wieder ein.

Ja, dank Bunsen "ergibt (...) ein reduzierter Strich und eine Fläche unglaublich viel Raum".9 Diese stehen dann für ihn "exemplarisch für Wissen und Neues Zeitalter".10

Und was kann man noch darin lesen? Da alle Möglichkeiten von Tiefe erlebt werden, kann sich jede/-r in ihre verschiedenen Ebenen vertiefen. Tiefe auch im übertragenen Sinn, ja, in jedem Sinn. Zeit-Löcher, Raum-Löcher. Schwarze Löcher. Metafer für Liebe und Sein.

Oder: Geschichte als Fänomen, z.B. wie Schrift dauerhaft wird, Vergängliches zeitlos; oder unbekannt, indem der deutsche Titel "Ohne Titel" auf polnisch "Bez titulul" da steht und für uns so zu einem spannenden neuen Titel wird. -

In seiner Werks-Entwicklung kommt in den neueren Bildern immer mehr der grafische Duktus zum Tragen, der malerische Duktus, die starken Überlagerungen von Vorder- und Hintergründen, wird immer mehr reduziert. Das Reduzierte wird noch konzentrierter. Doch nie liegt reine Grafik vor, die Grafik bleibt malerisch.

Daß Bunsen viel studiert, unterrichtet, reist, erlebt, geschrieben und getan hat, nicht zuletzt mit dem berühmten Soziologen Niklas Luhmann zusammen gearbeitet, ja mit ihm ein Buch geschrieben hat, und auch als gebürtiger Texaner in Deutschland in verschiedenen Kulturen agiert, könnte die Gefahr bergen, das Fröhliche, Leichte, Unbeschwerte zugunsten einer gewissen Kopfigkeit zu verlieren. Doch Bunsens Kunst hat den schönen seltenen Weg gefunden, Überhänge und Überfrachtungen sowohl in überreferenzieller Intellektualität als auch in lediglicher Emotionalität zu vermeiden. Beides lebt sich dennoch voll aus in Explosivem, Reflexivem bis zu tief Gedankenversunkenem; es wird erst da gebannt, wo eines zu dominant würde.

So erreicht Bunsen neben der Theorie eine Poesie, die zart - erotisch - liebevoll sein kann; Rührend werden in einem Bild Fotografien (vom Sperrmüll in Norwegen) durch Rahmen aus Leinöl-Patina zeitlos bewahrt. Ihre Differenz gibt ihnen die Zeitlosigkeit. So bestehen sie als Zeit in der Zeit.

Wie gesagt, Bunsen sieht Geschichte als Fänomen - wie wird Schrift zeitlos, wie wird sie Träger der Geschichte und Träger der Aussage? Collagierte, aus Polen mitgebrachte Zeitungsfetzen werden konserviert - der rote Gestus überlagert in dem Großformat den linearen schwarzen Strich. Eine Emotionalität der Bewegungen ist spürbar. "Bez Titulul".

Diese Experimente mit Fläche und Überlagerung im realen und übertragenen Sinn - lassen Wesner von Bunsen als "subtilem Beherrscher der Fläche"11 sprechen. Das heißt "anders betrachten". Ein Versuch, anders hinzusehn, Tiefe im Innehalten zu spüren und Zeitzeichen in unserer rasenden, schnellen Zeit, in der Bits und Bites in unfaßbaren Geschwindigkeiten...

Apropos: als echter Software- und Technik-Fan arbeitet Bunsen an internationalen Software-Projekten. Die technischen Mittel will Bunsen beherrschen, sie werden zu Formen, eingesetzt in Funktionen, haben "viele Komponenten und Facetten und sind vor allem offen".12 Außerdem ist das für ihn "Kultur, öffnet interdisziplinäre, neue Wege und hat soziologische Aspekte".12 In seinen Bildern spiegelt sich das wider.

Kunsthistorisch ist Bunsens Kunst inzwischen fern der amerikanischen Tradition an(aus-)gesiedelt. Sein "Abstrakter Expressionismus"14 ist "Meta-Expressionismus".15 "Die Kunst ist eine Sprache, die gelesen werden kann".16 Bevor er "seine Ideen und kreativen Impulse in die Gestalt von Kunst bringt, hat der Künstler im allgemeinen Leben bereits (re-)agiert, um seinen Standpunkt zu gewinnen" oder "neu zu artikulieren" sagt Bunsen.17 Seine eigene "Seinsgeschichte" wird "spiegelnd zum Ausdruck gebracht". "Wenn abstrakte Kunst aus der Form und Bildgestalt in erster Linie ihren Urspung im geistigen und emotionalen Haushalt des Künstlers verrät", dann ist mit Bunsen von "Meta-Expressionismus" zu sprechen.

Hier vorne sehen Sie in der Lithografie "Schwarzes Loch" eins der Hauptthemen 'Schwarze Löcher'; diese werden laut Bunsen in der Gesellschaft wiedererkannt, seit sie durch Steven Hawkings Forschungen sowie seiner Veröffentlichung darüber bekannt wurden. Dieser Teil ist der Reale, wir wissen, daß es Schwarze Löcher gibt, also "Stellen im Kosmos (...), deren Schwerkraft alles ansaugt und lautlos verschluckt, was in ihre Nähe kommt (...) Aber wie kann man solche schwarzen Löcher ins Bild bringen?" fragt Luhmann.18

Ein anderer Teil ist der unbekannte, der Kreis filosofisch als Symbol für Vollkommenes. Der Kreis steht aber nun nicht mehr nur einfach westlich gesehen da, sondern asiatisch als das Erreichte. Vereinfacht dargestellt sind das Hintergedanken, mit denen Bunsen dann operiert: Bei den zwei Bögen Papier, die getrennt und mit schwarz unterlegt sind, kommt das hintere scheinbar nach vorne, scheinbar: filosofisch: man weiß nicht, was wirklich vorne und hinten ist; Die scheinbar gemalte Linie ist keine.

Wie Sie bemerkt haben, ist der Weg des "anders Betrachtens" unserer Welt- und Lebensfänomene nicht gerade einfach. Zu Bunsens Kunst- und System-Theorie ist viel geschrieben worden, Sie sehen es mir jedoch sicher nach, wenn ich mich in diesem Rahmen nicht weiter darin vertiefe. Denn, um mit Carlo Pizzichini zu sprechen, Kunst ist ja "nicht nur Geist, sondern auch Dekoration und Leben". Daher können wir auch einfach die wunderbaren Farben, Formen und Ideen genießen, die in diesen Räumen so andere Akzente setzen, ja, mit den Räumen kommunizieren. Sieben kleinformatige Bilder im Gang - mit sieben Schritten - Bunsen, der ehemalige Hürdenläufer, hat es abgemessen - können Sie entlanggehen, bei jedem Bild stehen. Im Besprechungszimmer psychologisch feinfühlig ein farblich softes Bild mit zarten wachskreideartigen Linien und blauem Gestus, das zum Thema Besprechungen einfach passt. Ein weiteres Bild lebt von den Grundfarben blau, rot, gelb. Von Hinter-und Vordergrund und einem blauen Strich als Mittelachse. Bunsen denkt hier an Rudolf Steiner. Links unten eine Explosion, die aber gebrochen wird durch den absolut breiten roten gebogenen Doppelstrich, hinter dem sie sich befindet. Horizontale Linien stehen für "Lebenshorizonte", auf die man wie ein Sportler beim Start in höchster Konzentration zielt. Durch einen fast nicht sichtbaren Strich im wilden Fleck eröffnet sich eine Tiefe im schwarzen Loch. Eine ganze Welt.

Noch einmal Goethe: "Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst".19

Und davon möchte ich Sie nun nicht länger abhalten.

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Fußnotizen:

  1. "Wilhelm Meisters Wanderjahre" 1829
  2. "Ringen mit dem Existentialismus" 1994
  3. in einem Gespräch mit M. Götz am 20. Februar 1999
  4. a.a.O.
  5. a.a.O.
  6. Der Physiküstler Simon Götz in einem Gespräch mit M. Götz am 15. März 1995
  7. Wie Fußnote 3
  8. "Schwarze Löcher, schwarze Kleckse" 1995
  9. Wie Fußnote 3
  10. Wie Fußnote 3
  11. Wie Fußnote 2
  12. Wie Fußnote 3
  13. Wie Fußnote 3
  14. Vergleiche Bathelt, Helge: Beobachtungen. In: Frederick Bunsen. Hg. F. Bunsen u. Galerie Walz, Stgt. 1993
  15. Vergleiche Bunsen, Frederick: "Kleckse und andere ketzerische Farbtropfen". In: Ders.: siehe Fußnote 14
  16. Bunsen, Frederick D.: Kunstbegriff, Selbst-Manifest des Künstlers. In: Ders.: "ohne titel" Neue Orientierungen der Kunst. Würzburg 1988
  17. Alle Zitate dieses Absatzes aus: siehe Fußnote 16
  18. Wie Fußnote 2
  19. Maximen und Reflexionen 52

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