Niklas Luhmann und Kunst   | |  Spacetime Publishing International   | |  Diese Website Empfehlen  

 

 

Daß Bilder, figurale oder abstrakte, den Eindruck eines Raumes auslösen können, ist seit der Erfindung der Perspektive und ähnlicher, zum Beispiel farblicher Techniken geläufig und nicht weiter bemerkenswert.

Raum ist dann aber nur eine Wiederholung dessen, was (und wie) man sowieso sieht. Will man sich um "Tiefe" bemühen, ist mehr als nur das gefragt. Aber kann eine andere Art von Tiefe gelingen, wenn wir die Raumvorstellung an die Gewohnheit perspektivischen Sehens gebunden haben und auch von Bildräumen nichts anderes als das erwarten? Gibt es, anders gesagt, andere Tiefen als die des Raumes; oder andere Möglichkeiten, sie ins Bild zu bringen, als die der Perspektive?

Man wird sich zunächst an die Kunst des Ornaments erinnern, das die Bedeutung des Gegenstandes unterstreicht, auf dem es angebracht ist. Gemeint war: Oberfläche interpretiert Tiefe. Für ältere Gesellschaften, deren Divinationstechniken ja ebenfalls Lineaturen - auf Schildkrötenpanzern, in Gedärmen, im Vogelflug - als Anzeichen für Verborgenes nahmen, muß dies eine vertraute Denkweise gewesen sein. Tiefe war demnach nicht nur räumliche Distanz, sondern gleichsam die andere, die unsichtbare Seite der Grenze des Sehens. Die Renaissance- Lehre vom Disegno hatte dies nochmals aufgenommen bis hin zur Auffassung von Hogarth, daß die geschwungene Linienführung anzeige, wie das Kunstwerk sich selbst von innen sehe. Aber damals hatte man Schönheit schon als gut ausgewogene Proportion beschrieben und war folglich mit der Frage konfrontiert, was das disegno, die Schönheitslinie, die Arabeske, die Ornamentierung denn noch Zusätzliches zu leisten imstande sei - außer vielleicht: Schwachstellen im Kunstwerk zu retuchieren.

Also erneut gefragt: Gibt es andere Möglichkeiten, Tiefe sichtbar zu machen? Und was wäre, wenn ja, der Sinn von Tiefe, wenn es nicht einfach um Entfernung geht?

Frederick Bunsen experimentiert mit "schwarzen Löchern". Das sind in der modernen Kosmologie Stellen im Kosmos (im Kosmos, es gibt also noch anderes außer Tiefe), deren Schwerkraft alles ansaugt und lautlos verschluckt, was in ihre Nähe kommt. Schwarz und lautlos deshalb, weil weder Licht noch Schall zurückkehren kann. Aber wie kann man solche schwarzen Löcher ins Bild bringen? Die Farbe schwarz allein kann das wohl nicht entscheiden.

Vielleicht ist es nützlich, zwischen schwarzen Löchern und schwarzen Klecksen zu unterscheiden und dann zu fragen: Woran sieht man, daß es sich um ein Loch und nicht um einen Klecks handelt? Sowohl Kleckse als auch Löcher verweisen auf etwas außerhalb des Bildes, auf etwas, was im Bild selbst nicht zu sehen ist; und, wie gesagt, nicht nur auf die weitere und immer weitere Ausdehnung des Bildraums. Schwarze Kleckse sind von oben ins Bild gefallen. Schwarze Löcher müßten ins Bild in sich selbst einsaugen, und nicht etwa, wie ein Loch in der Wand, nach hinten hinausführen. Sie wären also, wenn man die Metapher ernst nimmt, nicht das Bild im Bild, sondern das Unbild im Bild.

Aber das Bild muß doch ein Bild bleiben, es muß die Schwärze im Bild halten, auch wenn sie mehr besagen soll als nur eine Komponente in der Ordnung des Bildes. Systemtheoretisch formuliert, muß eine Einheit von Fremdreferenz und Selbstreferenz, von "nach außen" und "nach innen" erreicht werden, und dies im Bild selbst (und nicht irgendwo anders). Für Kleckse scheint dies nicht allzu schwierig zu sein: Man macht das Gekleckstsein durch die Umrisse des Kleckses deutlich, die, wie Spritzer, das Nichtgeplantsein der Konturen sichtbar werden lassen. Und man fängt den Klecks dann wieder ein, indem man ihn im Bild vernetzt, zum Beispiel durch Linien, die teils vor dem Klecks, teils hinter dem Klecks liegen; oder durch filigranartige Lineaturen, die den Klecks als Kontrast erscheinen lassen und dadurch im Bild halten. Die Techniken des Im-Bild-Haltens bleiben selbst unsichtbar, sie sind "not to be seen", um es mit der englischen "Art and Language" Gruppe zu formulieren. Sie erschließen sich nur der Analyse, nur im Modus der Beobachtung zweiter Ordnung. Aber wie kann man schwarze Löcher im Bild halten, ohne sie in bloße schwarze Flächen zu verwandeln und ihnen damit den Charakter des schwarzen Lochs zu nehmen?

Wenn diese Überlegungen zutreffen, stellen sich zwei Abgrenzungsprobleme, die zu lösen sind, wenn schwarze Löcher zum Bildthema werden sollen: die zur nur räumlichen Tiefe und die zum Klecks. Aber: wie vermeidet man es, in diese schon gebahnten Auswege zu geraten? Wie kann man das Unbild im Bild halten und sichtbar machen?

Ein Kommentar kann zwar Probleme definieren, nicht aber dem Künstler vorgreifen und Problemlösungen vorschreiben. Immerhin zeichnet sich in den bisherigen Versuchen eine weitere Unterscheidung ab. Graphische Einfassungen scheinen eher dazu geeignet zu sein, schwarze Flächen als Kleckse ins Bild zu setzen. Farbliche Ausführungen könnten eher hilfreich sein, wenn die Schwärze als schwarzes Loch beobachtet werden soll. Denn andere Farben haben die Möglichkeit, dem Schwarz eine Farbqualität zuzuweisen—oder dies zu verweigern und es als farbloses, alle Farben verschlingendes Dunkel erscheinen zu lassen.

Nachwort: mit dem Wort "Bild" bin ich nicht sehr glücklich, aber ich kann es nicht ersetzen.

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Schwarze Löcher
   schwarze Kleckse


von Niklas Luhmann 1995

 ...Die Farbe Schwarz allein
kann das wohl nicht entscheiden