Beobachtungen

von Helge Joachim Bathelt 1992/93

 

Eine Folge von Fotografien zeigt Bunsen dem Habit und dem Ambiente nach als ginge es um eine Illustration von Umberto Ecos Roman "lm Namen der Rose". Die Sequenz endet mit dem Verschwinden des Künstlers. Licht, Weltkugel und Werke bleiben. Durch seine Abwesenheit gibt der Künstler den Raum frei für eine Aneignung durch den Betrachter. Die Erfindungsgabe des Künstlers, das Werk und die Betrachtung durch Dritte stehen autonom nebeneinander. Licht und Weltkugel repräsentieren einen unterschiedlichen Zugang. Die Freigabe des Werkes für den
Betrachter vollzieht Bunsen nicht immer mit gleicher Konsequenz. Nennt er eine Arbeit "Drewermanns Traum", so wird jeder Zeitgenosse darin den Theologen, die Amtskirche, den Disput und vielleicht auch Zeichen der geschichtlichen Situation erfinden können. Ein eschatologisch deutbares Tiefenraumlicht, architekturgemahnende Farbvolumina (eine Kathedrale?), eine streitbare Lineatur, eine knappe dogmatische Vertikale: Signaturen für eine Analyse: jenseits tumber Eindeutigkeit und Eindimensionalität. Was die Wissenschaft nicht leisten kann, nämlich eine Berücksichtigung aller Randbedingungen, so daß das Gesamt einer Sache sichtbar wird, eben das leistet die Kunst. Die Mittel, derer sich Bunsen zu diesem Zweck bedient, sind in einigen Punkten zu fassen:

> durch sich überlagernde Schichten erreicht er eine bedeutungsvolle Tiefenraumwirkung

> durch eine geometrische sowie durch eine emotionalisiert freie Lineatur wird eine Verhaltenspsycho(patho)logie vermittelt

> kalligraphische Kürzel deuten einen Erlebnissubjektivismus aus

> die Farben schließlich verorten das Gesamte des Erlebens in der Zeit und im Gefühl.

Im Ergebnis überbietet das alle Sprache. So ließe sich zum Beispiel zum Thema "Wiederkehr der Engel?" (Herbert Vorgrimler, Kevelaer 1991) viel Intelligentes und hervorragend ftecherchiertes schreiben. Dennoch kann damit Bunsens "Spuren des Dialogs" von 1990 nicht überboten werden. Wiederum wird hier die Sache selbst der Substanz nach sichtbar gemacht. Offensichtlich eignet sich das künstlerische Verfahren aber nicht nur für theologische Fragestellungen. In einem Auflagenblatt aus den späten achtziger Jahren hat sich Bunsen mit dem Berliner Kurfürstendamm beschäftigt. Bunsens Linienspiel folgt keiner konkreten Architektur. Bunsen realisiert vielmehr die Idee eines Stadtensembles, und zwar als eine diszipliniert konfigurative Analyse unter Einbezug der Atmosphäre, des Lebens, der Geschichte, der Menschen, persönlicher und überpersönlicher Momente, so daß es wiederum eine Situation in ihrer Komplexität ist, die hier vorgeführt wird. Dieses Verfahren kann verglichen werden mit Ansprüchen, die der Analytische Kubismus an das Erfassen von Gegenständen gestellt hat. Solche Komplexität wird bei Bunsens "Abstraktem Expressionismus" stets erreicht. Ein kongenialer Film über die Arbeitsweise des Künstlers, hergestellt von der Berliner Filmakademie, zeigt, daß Bunsen selbst beim Malen eines weiblichen Aktes in einen Prozeß umfassender Kommentierung eintritt, der alles bloß Gegenständliche transzendiert. Auf diese Weise erhält jede Darstellung eine besondere Aura des Lebendigen, die das fertige Werk auszeichnet. So gelangen wir zu einem entscheidenden Kriterium für die Qualität Bunsens. Dieses Kriterium liegt begründet in der intellektuellen und emotionalen Reichweite des Künstlers. Der Intellekt steuert die Intuition. Von zügellosem Sich-Ausleben ist in den Bildern Bunsens bei aufmerksamer Beobachtung nichts zu spüren. Die Arbeiten sind vor allem fundiert vorgedacht, präzise auf das Wesentliche hin konzentriert und ideengetreu realisiert. Diese Kunst überbietet jedes geschlossene Universum von Denken und Sprechen in einer Ganzheit, innerhalb der das alltäglich Bekannte nur ein Subsystem voller Unzulänglichkeiten ist. Als "klassisch Abstrakter" bewahrt Bunsen dem Bild erzählerische Einstiegsmöglichkeiten. Gerade diese "Hilfen" weisen aber selbst über ihr mimetisches Moment hinaus und vergrößern und erweitern die Sicht des Betrachters. Es wird deutlich, daß es hier nicht um Phantasie geht, sondern um die Wirklichkeit im Lichte ihrer Möglichkeiten. Bunsens Bilder sind auf ein ganzheitliches Erkennen ausgelegt.