"Kreuzverhüllung"

"Der zerschnittene Raum - Mittelalterliche Fastentücher"

Ulla Groha 22. Februar 1999

Kunstinstallation in der St. Karl Borromäus Kirche Winnenden

Die Kreuzverhüllung 1999 (Fotos Karin Mueller Leonberg)

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Fasten- oder Hungertücher sind spätestens seit der Misereor-Fastenaktion bekannt, die seit 1976 die Gestaltung von Hungertüchern meist bei Künstlern der sogenannten Dritten Welt in Auftrag gibt. Doch kaum bekannt ist, welcher Brauch sich hinter diesen modernen Fastentüchern verbirgt, die im Grunde von ihrer Funktion her kaum noch etwas mit den historischen Fastentüchern des 15. bis 18. Jahrhunderts gemein haben.

Bereits im Mittelalter war das Anbringen eines bemalten oder gestickten Fasten- oder Hungertuches ein überall gepflegter Brauch, der heute nahezu vergessen ist. Diese Tücher, auch "Leidenstücher" oder "Schmachtlappen" genannt, wurden in der Passionszeit am Chorbogen aufgehängt, so daß während der 40-tägigen Fastenzeit den Gottesdienstbesuchern der Blick auf das Geschehen am Altar verwehrt blieb. Wie eine undurchdringliche Wand durchschnitten die Tücher den Kirchenraum und trennten den Gemeinde- vom Altarraum. Sie sollten die Gläubigen zu Fasten und Abstinenz anleiten. So finden wir in einer Predigt des Geiler von Keysersberg, um 1500 ein bedeutender Kanzelredner am Straßburger Münster, die Aufforderung: "Dich sol leren das Hungertuch - so man ufspannt - Abstinenz und Fasten." Von diesem Brauch läßt sich bis auf den heutigen Tag die Redewendung "am Hungertuch nagen" ableiten. Wie das Beispiel des 1347 in Rufach/Elsaß geschaffenen, leider nicht mehr erhaltenen Tuches lehrt, konnte es auch anläßich einer überstandenen Hungersnot gestiftet werden, so daß sich auch daher der Name erklären ließe.

Da vermutlich nahezu jede Gemeinde ein oder mehrere Fastentücher besaß, muß es diese Tücher, von denen sich nur um die Hundert erhalten haben, in großer Zahl gegeben haben. Aber auf Grund ihres Materials - einfache Leinwand - waren sie besonders leicht Zerstörungen ausgesetzt. Heute finden sie sich nur noch in wenigen Regionen, insbesondere den Alpenländern, vor allem in Kärnten, dem Alemannischen Raum und in Westfalen. Zumeist werden sie dort in Museen verwahrt. Ganz vereinzelt sind sie überhaupt noch in liturgischem Gebrauch. Zu den bekanntesten, bis auf den heutigen Tag noch genutzten Tüchern zählen das im Dom zu Gurk/Kärnten von 1458, das in der Stiftskirche Millstatt am Millstätter See von 1593 und das im Freiburger Münster von 1612. Hier im schwäbischen Raum haben sich bis auf das schon genannte Freiburger Tuch nurmehr Fragmente oder schriftliche Nachrichten von ehemaligen Fastentüchern erhalten. So wissen wir, daß es in Güglingen bei Heilbronn ein sogenanntes Palmtuch aus dem 15. Jh. gegeben hat, daß ungewöhnlicherweise von Palmsonntag bis Ostermontag in der dortigen Kirche aufgehängt wurde. Daher rührt auch die abweichende Bezeichnung. Leider ist dieses Tuch 1849 verbrannt. Auch in Gingen wissen wir nur schriftlichen Überlieferungen zufolge, daß es dort ein spätgotisches Tuch gab, das nach 1781 verlorengegangen ist. Im Museum in Sigmaringen lassen sich seit 1952 zwei Fragmente unbekannter Herkunft aus der Zeit um 1500 bewundern, und auch die Pfarrkirche St. Cosmas und Damian in Unterwachingen besitzt zwei Fragmente eines Fastentuches aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts. In Altheim (Saulgau) fand man 1960 die Fragmente eines Fastentuchs hinter dem barocken Hochaltar, die dort als Isolierung gegen die Feuchtigkeit mißbraucht wurden. Es ist zu vermuten, daß auf diese oder ähnliche Weise das eine oder andere Tuch verlorenging oder aber, daß vielleicht noch so manches alte Stück auf dem Dachboden einer Dorfkirche ein unentdecktes Dasein fristet. Die Malereien der genannten Beispiele haben unter solchen Bedingungen teilweise stark gelitten. Um nämlich die Tücher die übrige Zeit des Jahres zusammengerollt verwahren zu können, brachte man die Tempera- oder Leimfarbe ohne Grundierung auf die Leinentücher auf. Das hat zur Folge, daß sich die Farben durch unsachgemäße Handhabung leicht abreiben.

Da mit den Tüchern vom 15. bis ins frühe 17. Jahrhundert der Chorbereich in seiner gesamten Höhe und Breite verhängt wurde, erreichten sie mitunter enorme Ausmaße. Das größte erhaltene Fastentuch ist das schon erwähnte des Freiburger Münsters, das mit seinen nahezu gigantischen Maßen von 12,25 x 10 m eine Fläche von 122,5 qm besitzt, also gut die Grundfläche für eine 5 Zimmerwohnung bieten würde.

Allerdings darf man sich die Aufhängung während der Fastenzeit nicht unbedingt starr vorstellen. Mittelalterliche Quellen belegen, daß die Tücher während des Gottesdienstes zu bestimmten Anlässen hochgezogen oder wie Vorhänge aufgezogen wurden. Seit der jüngsten Restaurierung ist das Gurker Tuch vertikal geteilt und gibt eine ungefähre Vorstellung von dieser Praxis. Die Aufhängung erfolgte nach dem Aschermittwoch, zumeist am ersten Fastensonntag. Das Abhängen geschah in der Regel am Mittwoch der Karwoche im Zusammenhang mit der Textstelle der Evangelien, die das Sterben Jesu schildert: "Und der Vorhang des Tempels riß mitten entzwei". Dabei ließ man das Tuch mit lautem Getöse, Lärm und Geklapper auf den Boden fallen, um so auf das beschriebene Erdbeben beim Tode Jesu hinzuweisen.

Doch welche Bedeutung hatten nun diese riesenhaften Tücher? Woher leitete man diesen gottesdienstlichen Brauch ab? Welche Aussage stand dahinter? Zum einen kann man sagen, daß die ursprüngliche Funktion wohl das Verhüllen der prächtigen Altarausstattung war. Somit wurde die Fastenzeit also auch zu einer Askese für die Augen, indem man nicht mehr den Blick auf den prächtigen Glanz der wertvollen Altargegenstände hatte. Ein zweiter Grund, der ebenfalls auf das Moment der Verhüllung abzielt, ist das Verbergen der Gottheit Christi. In der Fastenzeit soll dem Leiden und Sterben Christi besonders gedacht werden. Hierauf basiert der ' Wunsch, in dieser Zeit das göttliche Wesen Christi hinter die gepeinigte menschliche Natur zurücktreten zu lassen. Vermutlich kam deshalb die Praxis auf, den Altarraum mit den, zumindest in der Romanik, triumphalen Kruzifixen zu verhüllen. Ein weiterer Grund läßt sich aus der mittelalterlichen Bußpraxis ableiten. Während der 40-tägigen Fastenzeit wurden die Sünder aus der Kirche, d.h. von der Eucharistiefeier ausgeschlossen und erst am Gründonnerstag, dem Fest der Einsetzung des Abendmahls wieder feierlich in die Gemeinde aufgenommen. Daher liegt nun der Schluß nahe, daß sich durch den Brauch des Aufspannens des Fastentuchs die gesamte Gemeinde quasi freiwillig in den Stand der Sünder begibt, also auf die Augen- und wohl auch auf die Mundkommunion als Zeichen der Buße verzichtet. Damit parallel ginge dann auch das Entfernen des Fastentuches am Mittwoch der Karwoche, also unmittelbar vor dem Gründonnerstag, an dem dann alle wieder an der Eucharistiefeier teilnehmen können.

Eine letzte Deutung läßt sich schließlich in Verbindung mit dem Tempelvorhang darlegen. Wie schon erwähnt, wurde das Tuch im Zusammenhang mit der Bibelstelle "Und der Vorhang des Tempels riß mitten entzwei" entfernt. Nun hing aber der Vorhang im Tempel von Jerusalem zwischen dem Heiligtum und dem Allerheiligsten, in das der Hohepriester nur einmal im Jahr mit dem Blut der Opfertiere eintrat. Dadurch, daß laut Evangelium durch den Opfertod Christi der Vorhang entzwei riß, wird deutlich, daß Christus nun der Hohepriester ist, der in das Allerheiligste eintritt, jedoch mit seinem eigenen Blut der ewigen Erlösung. Mit dem Fastentuch wurde diese Deutung anschaulich gemacht, denn durch den Opfertod Christi ist alle Schud gesühnt ist.

Besonders interessant ist jedoch die Tatsache, daß die erhaltenen Tücher nicht einfach schmucklos sind, sondern allesamt zumeist szenische Malereien, oder in Westfalen Stickereien, von Ereignissen des Alten und Neuen Testaments aufweisen. Dies stellt natürlich nochmals die Frage nach der Bedeutung der Tücher: sollen sie nun verhüllen oder aufzeigen? Vermutlich muß man sich eine Entwicklung in der Geschichte der Fastentücher vorstellen. Die frühen Tücher - es gibt bereits schriftliche Nachrichten aus der Zeit um 1000 - werden wohl relativ schmucklos gewesen sein. Das Tuch von halberstadt um 1300, eines der ältesten erhaltenen, zeigt nur abstrakte Kreuzornamente. Doch schon für das 12. Jh. kennen wir durch Beschreibungen das Aussehen von vier Fastentüchern von St. Ulrich und Afra zu Augsburg, die Szenen aus dem Leben des Heiligen, Engel und Tugenden, Gestalten des Alten und Neuen Testaments sowie allegorische Darstellungen zeigten. Mit dem 15. Jahrhundert beginnt dann die Reihe der erhaltenen, reich mit Szenen aus dem Alten und Neuen Testament geschmückten Tücher. Dabei ist eine durchgängige Aufteilung der Tücher in eine klar gegliederte Abfolge kleiner Bildfelder zu beobachten, die alle gleich groß sind. Die Erzählung beginnt im Feld oben links mit der Erschaffung der Welt, erstreckt sich dann über Sündenfall, Vertreibung aus dem Paradies, Brudermord und den Geschichten der Erzväter bis hin zur Kindheit Jesu, seinem öffentlichen Wirken, der Passiongeschichte mit Auferstehung, Himmelfahrt bis zum Jüngstem Gericht. Häufig ist die Auswahl der Themen durch typologische Gegenüberstellungen von Altem und Neuem Testament bestimmt. So findet sich häufig die Opferung Isaaks als Hinweis auf den Kreuzestod Christi oder Jona im Bauch des Walfischs als Vorausschau auf die Auferstehung Christi am dritten Tag. Zunächst war die Gewichtung von Szenen des Alten und Neuen Testaments gleich, erst im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts verschob sich das Schwergewicht auf die Ereignisse des Neuen Testaments, so daß sich nach den Szenen der Genesis gleich die umfangreiche bildliche Schilderung der Passionsgeschichte anschloß. Für diese Tücher kann nun von einer reinen Verhüllungsfunktion nicht mehr die Rede sein, vielmehr hatten die bemalten Tücher eine erzählerische, didaktische Funktion. Sie sollten den Gläubigen in der Fastenzeit das Heilswirken Gottes vor Augen führen. Es ging also nicht mehr nur um die Verhüllung, sondern um die Offenbarung der Geschichte Gottes mit den Menschen über Schöpfung, Sündenfall, Menschwerdung, Opfertod und Auferstehung. In begleitenden Fastenpredigten wurde dieses Heilswirken Gottes erläutert, da die einzelnen kleinen Szenen aus der räumlichen Distanz kaum mehr erfaßt werden konnten. Auf den Tüchern des 17. und 18. Jahrhunderts kam es schließlich zu einer Ausbildung eines großen, zentralen Mittelbildes, um das herum sich allenfalls noch kleinere Szenenfelder gruppierten, wie das auf dem Freiburger Tuch der Fall ist. Zum zentralen Bild wurde nun die Kreuzigung Christi erhoben, so daß sie das Tuch ganz ausfüllte. Damit war das Fastentuch zu einem Andachtsbild geworden, das zur Versenkung in das Leiden und Sterben Christi aufforderte. Mit dieser zunehmenden Reduktion der Anzahl der Szenen ging auch eine fortschreitende Verkleinerung der Tücher einher. Schließlich hatten diese nur noch bescheidene Ausmaße und wurde lediglich zum Verhängen der Altarbilder verwandt. Damit reihten sie sich ein in die Reihe der übrigen Kunstwerke temporärer Kirchenausstattung wie Weihnachts- und Fastenkrippen, Palmesel und Heilig-Grab-Figuren. Ihre Funktion war nun darauf reduziert, vergleichbar den hölzernen Wechselbildern barocker Altäre, den Kirchenraum passdend zur Passionszeit auszugestalten, und verhüllten nur noch das thematisch anders gestaltete Altarbild. Diese passionszeitliche Ausgestaltung des Kirchenraumes ist auch das Motiv der neuzeitlichen Hungertücher von Misereor.

Abschließend überrascht vielleicht noch der Hinweis, daß keineswegs die Reformation den Fastentüchern ein Ende bereitet hat, obwohl wir von Luther wissen, daß er diesen Brauch ablehnte. An Hand der beiden berühmten Zittauer Fastentücher in Sachsen, die nach der Wende wiederentdeckt und restauriert wurden, läßt sich das beispielhaft darlegen. Es ist überliefert, daß in Zittau, das sich bereits in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts der Reformation anschloß, das große Fastentuch von 1472 bis 1672 in der Johanniskirche hing. Das kleine Tuch wurde sogar erst in reformatorischer Zeit 1573 in Auftrag gegeben. Beide Tücher werden ab Juni 1999 im neu eingerichteten Museum Kirche zum Heiligen Kreuz dauerhaft präsentiert werden. Auch in Sternberg in Kärnten finden wir den Nachweis, daß dort ein evangelischer Adliger 1629 das Fastentuch stiftete. Wenn auch nicht überall nach der Reformation dieser Brauch übernommen wurde, so hat doch nahezu flächendeckend erst die Aufklärung die Fastentücher als "alten Plunder" abgelehnt und aus dem Verkehr gezogen, so daß der Brauch heute größtenteils in Vergessenheit geraten ist.

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