"Kreuzverhüllung"

Kommt! Ins Offene - heutige Prophetie und Zukunftshoffnung

Michael Kessler 21. März 1999

Diözesanbildungswerk, Stuttgart, Predigttext: 1. Lesung: Ezechiel 37. 12b - 14; 2. Lesung: Römer 8, 8 - 11

Kunstinstallation in der St. Karl Borromäus Kirche Winnenden

Die Kreuzverhüllung 1999 (Fotos Karin Mueller Leonberg)

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Wer vom Fleisch bestimmt ist, kann Gott nicht gefallen. Ihr aber seid nicht vom Fleisch, sondern vom Geist bestimmt, da ja der Geist Gottes in euch wohnt. Wer den Geist Christi nicht hat, der gehört nicht zu ihm. Wenn Christus in euch ist, dann ist zwar der Leib tot aufgrund der Sünde, der Geist aber ist Leben aufgrund der Gerechtigkeit. Wenn der Geist dessen in euch wohnt, der Jesus von den Toten auferweckt hat, dann wird er, der Christus Jesus von den Toten auferweckt hat, auch euren sterblichen Leib lebendig machen, durch seinen Geist, der in euch wohnt.


Evangelium: Johannes 11, 1 - 45

Ein Mann war krank, Lazarus aus Betanien, dem Dorf, in dem Maria und ihre Schwester Marta wohnten. Maria ist die, die den Herrn mit Öl gesalbt und seine Füße mit ihrem Haar abgetrocknet hat; deren Bruder Lazarus war krank. Daher sandten die Schwestern Jesus die Nachricht: Herr, dein Freund ist krank. Als Jesus das hörte, sagte er: Diese Krankheit wird nicht zum Tod führen, sondern dient der Verherrlichung Gottes: Durch sie soll der Sohn Gottes verherrlicht werden. Denn Jesus liebte Marta, ihre Schwester und Lazarus. Als er hörte, dass Lazarus krank war, blieb er noch zwei Tage an dem Ort, wo er sich aufhielt. Danach sagte er zu den Jüngern: Laßt uns wieder nach Judäa gehen. Die Jünger entgegneten ihm: Rabbi, eben noch wollten dich die Juden steinigen, und du gehst wieder dorthin? Jesus antwortete: Hat der Tag nicht zwölf Stunden? Wenn jemand am Tag umhergeht, stößt er nicht an, weil er das Licht dieser Welt sieht; wenn aber jemand in der Nacht umhergeht, stößt er an, weil das Licht nicht in ihm ist. So sprach er. Dann sagte er zu ihnen: Lazarus, unser Freund, schläft; aber ich gehe hin, um ihn aufzuwecken. da sagten die Jünger: Herr, wenn er schläft, dann wird er gesund werden. Jesus aber hatte von seinem Tod gesprochen, während sie meinten, er spreche von dem gewöhnlichen Schlaf. Darauf sagte er ihnen unverhüllt: Lazarus ist gestorben. Und ich freue mich für euch, dass ich nicht dort war; denn ich will, dass ihr glaubt. Doch wir wollen zu ihm gehen. Da sagte Thomas, genannt Didymus (Zwilling), zu den anderen Jüngern: Dann laßt uns mit ihm gehen, um mit ihm zu sterben.

Als Jesus ankam, fand er Lazarus schon vier Tage im Grab liegen. Betanien aber war nahe bei Jerusalem, etwa fünfzehn Stadien entfernt. Viele Juden waren zu Marta und Maria gekommen, um sie wegen ihres Bruders zu trösten. Als Marta hörte, dass Jesus komme, ging sie ihm entgegen, maria aber blieb im Haus. Marta sagte zu Jesus: Herr, wärst du hier gewesen, dann wäre mein Bruder nicht gestorben. Aber auch jetzt weiß ich: Alles, worum du Gott bittest, wird Gott dir geben. Jesus sagte zu ihr: dein Bruder wird auferstehen. Marta sagte zu ihm: Ich weiß, dass er auferstehen wird bei der Auferstehung am Letzten Tag. Jesus erwiderte ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben. Glaubst du das? Marta antwortete: Ja, Herr, ich glaube, dass du der Messias bist, der Sohn Gottes, der in die Welt kommen soll.

Nach diesen Worten ging sie weg, rief heimlich ihre Schwester Maria und sagte zu ihr: Der Meister ist da und läßt dich rufen. Als Maria das hörte, stand sie sofort auf und ging zu ihm. Denn Jesus war noch nicht in das Dorf gekommen; er war noch dort, wo Marta ihn getroffen hatte. Die Juden, die bei Maria im Haus waren und sie trösteten, sahen, dass sie plötzlich aufstand und hinausging. Da folgten sie ihr, weil sie meinten, sie gehe zum Grab, um dort zu weinen. Als Maria dorthin kam, wo Jesus war, und ihn sah, fiel sie ihm zu Füßen und sagte zu ihm: Herr, wärst du hier gewesen, wäre mein Bruder nicht gestorben. Als Jesus sah, wie sie weinte und wie auch die Juden weinten, die mit ihr gekommen waren, war er im Innersten erregt und erschüttert. Er sagte: Wo habt ihr ihn bestattet? Sie antworten ihm: Herr, komm und sieh! Da weinte Jesus. Die Juden sagten: Seht, wie lieb er ihn hatte! Einige aber sagten: Wenn er dem Blinden die Augen geöffnet hat, hätte er dann nicht auch verhindern können, dass dieser hier starb? Da wurde Jesus wiederum innerlich erregt, und er ging zum Grab. Es war eine Höhle, die mit einem Stein verschlossen war.

Jesus sagte: Nehmt den Stein weg! Marta, die Schwester des Verstorbenen, entgegnete ihm: Herr, er riecht aber schon, denn es ist bereits der vierte Tag. Jesus sagte zu ihr: Habe ich dir nicht gesagt: Wenn du glaubst, wirst du die Herrlichkeit Gottes sehen? Da nahm sie den Stein weg. Jesus aber erhob seine Augen und sprach: Vater, ich danke dir, dass du mich erhört hast. Ich wußte, dass du mich immer erhörst; aber wegen der Menge, die um mich herum steht, habe ich es gesagt; denn sie sollen glauben, dass du mich gesandt hast. Nachdem er dies gesagt hatte, rief er mit lauter Stimme: Lazarus, komm heraus! Da kam der Verstorbene heraus; seine Füße und Hände waren mit Binden umwickelt, und sein Gesicht war mit einem Schweißtuch verhüllt. Jesus sagte zu ihnen: Löst ihm die Binden, und laßt ihn weggehen.

Viele Juden, die zu Maria gekommen waren, und gesehen hatten, was Jesus getan hatte, kamen zum Glauben an ihn.

 

Zum Projekt "Kreuzverhüllung" der Kirchengemeinde St. Karl Borromäus in Winnenden.

Die Texte der Liturgie zum heutigen Tag reden von Tod und Auferstehung. Es sind, mit anderen Worten, Ostertexte. Diese Texte intonieren auf ihre Weise das Dunkel und den Glanz der österlichen Tage. Jener Tage, da in die Nacht der Verzweiflung, des Scheiterns, des Todes, ein Funke geschlagen wird, geschlagen ist: ein Funke, der um sich greift, anschwillt, Brand wird und Feuer und Licht. Ein Brand, der die Herzen erfaßt; ein Feuer, das nicht mehr erlischt; ein Licht, das leuchtet. "Lumen Christi", erschallt der Ruf im Dunkel der Feier der Osternacht, und dann wird es hell. Will sagen: Es bleibt nicht unter dem Scheffel, dieses Licht, sondern es wird auf den Leuchter gestellt, damit es weithin leuchte fortan. Es soll uns ein- und heimleuchten und unser Herz "brennen" machen, wie es in der Emmaus-Geschichte heißt.

Wenn ich sage, die liturgischen Texte des heutigen Tages, die wir eben gehört haben, seien Ostertexte, mag das nichtsdestoweniger erstaunen. Denn erstens ist doch Ostern noch gar nicht "dran". Und zweitens zeigt es sich bei genauerem Hinsehen, daß diese Texte garnicht von Ostern handeln. Aber wovon dann, wenn sie doch Ostertexte sein sollen?

Der Text der ersten Lesung kann schon gar kein Ostertext sein. Er stammt ja aus dem Alten Testament. Aus einem Buch, das nach dem Propheten Ezechiel benannt ist. Dieser Prophet lebte zur Zeit des babylonischen Exils. Also fast 600 Jahre vor Christus. Das Ezechiel-Buch selbst ist zwar wohl erst um die Mitte des 2. Jahrhunderts vor Christus entstanden. Aber immerhin. Wie soll da schon von Ostern die Rede gewesen sein können? Tatsächlich handelt der Text auch nicht von Ostern, sondern von den Israeliten an den Ufern von Babylon. Sie vegetieren dahin, sie richten sich vielleicht sogar ein im Exil. Wahrscheinlich sind sie in Gefahr, ihrer Identität zu verlieren. Sie sind im Begriff, zu vergessen, wer sie sind. Und zwar nicht bloß durch Fremdeinwirkung. Sondern durch eine mehr oder weniger freiwillige Anpassung. Sie passen sich fremden Sitten an und entscheiden sich für fremde Götter. Das heißt, sie schneiden sich ab von der Quelle des Lebens. Deshalb sind sie wie lebendig begraben. In ihre Treulosigkeit hinein verheißt ihnen der Prophet eine neue Inititative Gottes. Denn Gott ist treu und gerecht, er macht seine Verheißungen wahr. Er will nicht den Tod der Menschen, sondern daß sie leben. Er schenkt nicht nur den Verlorenen und Verbannten, sondern sogar noch den Abtrünnigen seinen Geist. Und weil er dies tut, bekommen sie eine neue Chance. Eine Chance für ein identisches, aus der Wahrheit bestimmtes, unentfremdetes Leben.

Die zweite Lesung aus dem Römerbrief des Apostels Paulus stammt aus einer anderen Zeit. Aus der Zeit der frühen Christenheit. Der Brief ist wohl um das Jahr 58 nach Christus entstanden. Auch dieser Text handelt offenbar von einer ähnlichen Situation. Er hat Ostern im Rücken. Offenbar ist es für die Christen gefährlich, Ostern im Rücken zu haben. Auch sie laufen Gefahr, das scheint mir die Situation dieses Briefes zu sein, sich im Alltäglichen einzurichten. Sie sind dabei, sich den Gegebenheiten, den Gesetzen dieser Welt anzupassen. Das aber ist eine tödliche Gefahr. Auch sie sind im Begriff, ihre Identität zu verlieren oder freiwillig aufs Spiel zu setzen. Vielleicht, weil sie für Leib und Leben fürchten. Der Apostel mahnt sie mit prophetischem Ernst, sich auf nichts solcher Art einzulassen. Denn sie würden aufs falsche Pferd setzen und die Rechnung ohne den Wirt machen. Und er erinnert sie daran, was die wahre und einzige Quelle ihrer Lebendigkeit ist: der Geist und die Gerechtigkeit Gottes.

Der dritte Text, das Evangelium des heutigen Tages, spielt - auf den ersten Blick - zu Lebzeiten Jesu, also vor Ostern. Er berichtet eines der vielen Wunder Jesu, die Auferweckung seines Freundes Lazarus. Aber dieser erste Blick stimmt nur scheinbar. Denn "vor" dem Osterereignis gibt es keine Evangelien. Tatsächlich dürfte das Johannesevangelium noch später, gut 50 Jahre nach den Schriften des Apostels Paulus erst, entstanden sein. Daraus ist bisweilen sogar die Schlußfolgerung gezogen worden, daß der Verfasser des Johannesevangeliums selbst kein Augenzeuge des Osterereignisses war. Aber wer auch immer dieses Evangelium verfaßt haben mag, was ist denn der Sinn dieser Geschichte? Offenbar ist ihr Thema nicht naturkundlicher, sondern prophetischer Art. Offenbar ist ihr Thema nicht das, was die Marta sowieso glaubt: die Auferstehung der Toten am Jüngsten Tag. Offenbar geht es nicht um etwas, das - vielleicht oder gewiß - irgendwann, am Ende der Zeit geschehen wird, sondern um etwas, das jetzt, das hier und heute "dran" ist. Es soll etwas erkannt werden, das schon da ist. Es geht um das "neue Leben", um die "Neuheit des Lebens, die nicht erst erscheint, sondern die schon erschienen, die schon wirklich ist. Wer das erkennt - das ist die Herrlichkeit Gottes - der erkennt, daß er lebt, auch wenn er sterben muß, und daß dies ein unverlierbares, identisches und authentisches Leben ist, das Ewigkeitswert und Ewigkeitscharakter hat. Offenbar wird dies wiederum prophetisch den Christen verkündet, die in Gefahr sind, zu resignieren, zu zweifeln, zu wanken, weil sie ein falsches Verständnis von der Unsterblichkeit haben.

Wir stehen in der Fastenzeit. Man nennt diese auch die österliche Bußzeit. Dafür gibt es geschichtliche und sachliche Gründe. Tatsächlich ist der Zeitraum der 40 Tage vor Ostern in der Kirche von alters her eine Zeit der Buße. Während der Fastenzeit hat man die Sünder von den Sakramenten ausgeschlossen. Und vielleicht diente die Verhüllung der Kreuze und die Verhängung des Altarraumes, sei es für die ganzen 40 Tage oder auch nur in der Heiligen Woche, nicht nur der Anleitung zu Abstinenz und Fasten, sondern ganz konkret einer "Unterbrechung". Vielleicht war es beabsichtigt, damit eine Gewohnheit des Sehens und Denkens zu stören. Auf diese Weise wäre sinnfällig bewußt gemacht worden, daß Anteil am Leben und Gemeinschaft am Heiligen - communio - keine Selbstverständlichkeit ist, sondern ein Geschenk. Nichts, das wir selber machen, sondern etwas, das wir empfangen. Mag dem früher gewesen sein, wie dem wolle. Heute dient jedenfalls die Aktion unserer Künstler wohl diesem Zweck der "Unterbrechung". Ich komme darauf zurück.

Aber lassen Sie mich erst noch etwas sagen zum Stichwort "Buße". Vielleicht ist das Wort Buße heute mißverständlich, weil man es allzu rasch moralisch interpretiert. Das biblische Wort für das, was gemeint ist, lautet Umkehr, griechisch: Metanoia. Ganz am Anfang des Markusevangeliums ist davon die Rede. Da wird wie in einer Kurzformel der zentrale Gehalt der Verkündigung Jesu zusammengefaßt. Es heißt da: das Reich Gottes ist da. Kehrt um und seid gläubig im Evangelium. Das Stichwort von der Umkehr beinhaltet mehrfaches. Es ist die Bedingung der Möglichkeit des Glaubens. Es hat den Charakter einer Anstiftung zum Ausbruch aus den Bahnen des Gewohnten und vermeintlich Verläßlichen. Es ist eine Art prophetische Unruhestiftung. Es weist auf das Verlassen des alten Weges, der ins Verderben führt. Tatsächlich bezeichneten die Christen sich daher schon sehr früh als die "Anhänger des neuen Weges". Der neue Weg ist der Weg des Lebens. Der einzige, und der einzig wahre, wie die Christen glauben. Und doch einer, auf dem zu bleiben ihnen wohl nicht so leicht fällt. Damals nicht und heute auch nicht. Das liegt daran, daß er nicht "normal" ist. Normal ist, was nach menschlichem Ermessen Erfolg verspricht, Sicherheit gibt. Aber dieses Normale ist von tödlicher, von Tod bringender Zugkraft und Abschüssigkeit. Wer den Spieß nicht umdreht - das ist der prophetische Zwischenruf - der hat verloren. Verloren auch dann, wenn er nach den Maßstäben dieser Welt auf der Gewinnerseite zu sein scheint.

Es ist wohl menschlich, sich mit dem Gegebenen abfinden und arrangieren zu wollen. Denn das verheißt in aller Regel ein gedeihliches Auskommen und kommt daher unserem Streben nach Sicherheit entgegen. Dieses Sicherheitsstreben gibt es auch im Bereich des Religiösen. Kritiker der Religion vertreten sogar die Auffassung, die Religionen selbst seien nichts anderes als gewaltige, und nicht selten auch gewalttätige Sicherheitssysteme. Tatsächlich gibt es so etwas wie eine Verspießerung und Verbürgerlichung der Religion. Eine Art Jahreswagen- und Reihenhausreligion mit Prämien für Wohlverhalten. Vermutlich gab es das zu allen Zeiten, weil es einfach menschlich naheliegend ist, sich auf diese Weise Zufriedenheit und Sicherheit zu verschaffen. Zufriedenheit, Sicherheit, Ruhe. Der Christusimpuls, der Osterimpuls ist aber kein Beruhigungsmittel. Er ist das Gegenteil: prophetische Unruhestiftung. Er wirft ein Feuer auf die Erde und in den Geist und in die Herzen, das nicht bloß ein Lichtlein sein, nein, das brennen soll.

Wenn ich vorhin sagte, daß es sich bei den liturgischen Texten von heute um Ostertexte handle, dann deswegen, weil ich den Eindruck habe, daß alle diese drei Texte genau das zum Thema haben. Das alle drei Texte ein Thema haben. Es ist das Thema von der "Neuheit des Lebens". Die Neuheit des Lebens verdankt sich der Überwindung des Todes, die nur von Gott her möglich ist. Sie hat Geschenkcharakter, diese Überwindung des Todes. Und sie macht, dass wir die "Herrlichkeit Gottes sehen", wie es im Evangelium von heute heißt. Karfreitag und Ostern sind dafür die entscheidenden Kristallisationspunkte. Man kann mit Fug davon sprechen, sie markieren eine Wende einzigartiger Art und ein für allemal.

Die Texte der biblischen Überlieferung erzählen Geschichten, nicht Geschichte. Das heißt nicht, daß es sich dabei um Erfindungen handelt oder um bloße Phantasie. Sie reden von Erfahrenem und Erlebtem. Aber es sind phantastische Erfahrungen und Erlebnisse, die sie berichten und bezeugen. Geschichten, die das Unerwartete, das Unglaubliche zum Inhalt und zum Gegenstand haben. Dieses Unerwartete, dieses Unglaubliche, das bezeugen und verkünden sie, ist wirklich. Es hat sich zugetragen, es ist geschehen, es ist erlebt worden und es geht weiter. Das aber, dass es weitergeht, das ist phantastisch.

Wer nicht umkehrt und gläubig ist im Evangelium, um noch einmal das Markusevangelium anzuführen, der gibt sich dem Trugschluß hin, sozusagen aus eigener Kraft und nach eigenem Gusto leben und selig werden zu können. Sich vom "Fleisch" bestimmen lassen, sagt Paulus dafür. Vom Fleisch - das heißt: Gesetz dieser Welt. Aber genau dieses Gesetz ist die Sterblichkeit, ist der Tod. Wer diesem Gesetz nicht gehorcht, so lautet die prophetische Unruhestiftung, der hat das ewige Leben. Und dadurch wird sogar das an uns, was der Sterblichkeit unterworfen ist, sich in Lebensenergie verwandeln.

Die Evangelienerzählung von Lazarus bringt zu den beiden Aspekten aus den Lesungen noch einen weiteren hinzu. Marta, so hörten wir, glaubt an eine Auferstehung der Toten am Jüngsten Tag. Aber das Thema Auferstehung betrifft nicht erst ein fernes Dereinst. Es betrifft das Jetzt, das Hier und Heute. Es gibt ein Leben hier und heute, das nicht zuschanden wird, auch nicht dadurch, dass der Mensch sterblich ist und bleibt. Weil es dies gibt, deshalb kann man die Herrlichkeit Gottes sehen. Die Neuheit des Lebens besteht in seiner Unvergänglichkeit: das ist das Herrliche, in dessen Wirklichkeit das prophetische Wort uns hineinziehen will, damit wir inmitten von Tod und Vergänglichkeit an ihm entbrennen und die Chance des Lebens erkennen und ergreifen.

Biblische Texte sind, was sie sind - Poesie: schöpferisches, hervorbringendes Wort. Das ist keine Herabwürdigung, sondern das Gegenteil: höchste Auszeichnung des Wortes. Das schöpferische Wort, das ins Sein ruft und in die Neuheit des Lebens, ist ja jenes Wort, das in der biblischen Überlieferung "Wort Gottes" heißt. Und der, dessen Licht der Osterruf kündet, Jesus Christus, heißt selber so: er ist, so hören wir ganz zu Beginn des Johannesevangeliums, er ist das Wort Gottes. Gottes erstes, im innergöttlichen Geheimnis verborgen gehauchtes, sein letztes, im gleichen Geheimnis der Selbstentäußerung und Selbsterniedrigung offenbar werdendes Wort, das gilt: ein für alle mal. "Ich habe gesprochen - und ich führe es aus", so hörten wir in der ersten Lesung. "Nichts nehme ich zurück von dem, was ich gesagt habe", heißt es an anderen Stellen im Alten Testament.

Vielleicht wird uns der Sinn für diese prophetischen Worte der Heiligen Schrift besser geöffnet, wenn wir etwas Ähnliches versuchen, wie das, was die Künstler hier in dieser Kirche mit ihren Arbeiten versucht haben. Ich sehe und verstehe diese Arbeiten als einen Versuch prophetischer Unterbrechung und Unruhestiftung. Ein gewohnter Anblick wird gestört; eine Blickrichtung wird unterbrochen; eine Erwartung wird irritiert; eine ruhige Selbstverständlichkeit wird in Schwingung versetzt. Plötzlich vibriert etwas. Etwas Unerwartetes tritt ein, oder besser: es tritt dazwischen, entfernt, verhängt, beschädigt etwas Erwartetes oder macht es in einer Weise überdeutlich, daß es sich verändert. Auf die Wahrnehmung wird eine Einwirkung ausgeübt mit dem Ziel und der Absicht, Wahr-Nehmung zu erzeugen. Das Denken, das Nachdenken, das Selberdenken soll in Bewegung gebracht werden, damit Kopf und Herz und Hand sich dem neu öffnen, was die Gewohnheit schluckt. Ich versuche also, dem, was die Heiligen Texte sagen wollen, auf die Spur zu kommen, indem ich einige andere Texte dazu oder vielleicht auch darüber lege. Ein erster Text - einige wenige Strophen aus einem langen Gedicht der Nelly Sachs:


WENN DIE PROPHETEN einbrächen
durch Türen der Nacht
...
mit ihren Worten Wunden reißend
in die Felder der Gewohnheit
...
und ein Ohr wie eine Heimat suchten
Ohr der Menschheit
du nesselverwachsenes,
würdest du hören?
...
Ohr der Menschheit
du mit dem kleinen Lauschen beschäftigtes,
würdest du hören?
...

Wenn die Propheten einbrächen, die Apostel aufstünden, Jesus selbst unter uns käme, wenn sie ihre Worte wiederholten, jene Worte aus den Heiligen Schriften des Alten und Neuen Testaments, die wir ja hören, Sonntag für Sonntag, das ganze Kirchenjahr hindurch - hätten wir dann Ohren dafür? Oder wären wir, wie das Gedicht befürchtet, immer noch auf Abwegen, emsig beschäftigt mit dem "kleinen" Lauschen?


"Zu lang ist alles Göttliche dienstbar schon
Und alle Himmelskräfte verscherzt, verbraucht
Die Gütigen, zur Lust, danklos, ein
Schlaues Geschlecht..."


Mit dieser scharfen Diagnose begegnet uns, hundertfünfzig Jahre früher, der Dichter Friedrich Hölderlin. Er konstatiert den Mißbrauch des Göttlichen. Es ist vernutzt und verbraucht zu menschlichem Geschäft. Vernutzt, verbraucht, verfälscht, verschlissen, verscherzt. Dienstbar gemacht zum Lustgewinn von einem schlauen Geschlecht. Daher spricht der Dichter vom "Fehl Gottes". Gott fehlt. Er ist verschwunden in den erfolgreichen Nutzanwendungen, die wir zu eigenen Zwecken mit ihm anstellen. Damit ist wohl nicht nur die Welt, sind nicht nur die Anderen gemeint. Der Mangel an Glauben in der Welt ist ein Mangel des Glaubens der Glaubenden, und nicht bloß, wie fromme Schläue glauben machen will, die Gleichgültigkeit derer, die nicht glauben. Auch religiöser Lustgewinn, mit Kraftgefühl oder Demutstarnung, ist danklose Vernutzung des Höchsten. Und wofür ist Gott nicht instrumentalisiert worden im Laufe der Religions-, auch der Kirchengeschichte, und wird es noch! Private und öffentliche Verkehrungen von Frohbotschaft in Drohbotschaft waren und sind gang und gäbe. Die Sprache, auch die religiöse Sprache, ist kontaminiert, verseucht wie nach einem Fallout. Sie strahlt nicht, sondern ist verstrahlt. Der Dichter bleibt jedoch nicht stehen bei dieser Beobachtung. Er verharrt nicht im Beklagen. Nicht das Bejammern des Mangels hilft, nein der Mangel selber wird zur Quelle der Hilfe. Zum Impuls der Umkehr und des Aufbruchs, eines Verstehens, zu dem die Dichter Helfer sind. Aufbrechen: dazu ruft der Dichter auf mit den Worten: "So komm! daß wir das Offene schauen. Daß ein Eigenes wir suchen, so weit es auch ist." Ein Eigenes: darum geht es. Es geht um die Frage der Identität. Auch in der Religion. Auch im Glauben. Nicht um Fremdbestimmung. Das prophetische Wort, das Wort der Apostel, das Wort Gottes und das dichterische Wort drängen zu solcher Wahr-Nehmung: daß wir ins Offene schauen; das wir uns in dem, was uns zugesprochen wird, als Gemeinte selbst erkennen; daß wir freimütig werden und uns ein Herz und einen Gedanken fassen; dass wir selber reden und denken und handeln. In einigen Strophen von unvergleichlicher Eindringlichkeit müht sich der Dichter, das aus- und zuzusprechen, prophetisch:


"Darum hoff" ich sogar, es werde, wenn das Gewünschte
Wir beginnen und erst unsere Zunge gelöst,
Und gefunden das Wort, und aufgegangen das Herz ist,
Und von trunkener Stirn höher Besinnen entspringt,
Mit der unsern zugleich des Himmels Blüte beginnen,
Und dem offenen Blick offen der Leuchtende sein."


Der Dichter spricht nicht von einer, er spricht von "seiner" Hoffnung. Diese Hoffnung, von der der Dichter spricht, ist Hoffnung über und gegen alle Hoffnung: "sogar" heißt es. Nicht von der Hoffnung des Dies und Das, vom Größten, das es zu hoffen gibt, vom Größten, das Hoffnung gibt, muß er sprechen. Vom Größten also, vom Besten, vom Optimum drängt es den Dichter, zu sprechen. Das, was er da zu sagen hat, wird aber nicht vorgetragen im Ton des "Vielleicht" und "Vielleicht einmal", sondern im Ton der Gewißheit. Der Dichter macht eine Prophezeiung. Eine Wahr-Sagung über etwas Gewisses. Er redet prophetisch; er sagt etwas an - und zu. Die Ansage des Dichters, sein Gedicht, drängt auf höchst intensive und eigenartige Weise in reale Gegenwart. Es ist ein visionärer Text. Aber ein Text, der nicht "spinnt", in der schwäbischen Bedeutung des Wortes. Der Dichter ist kein Spinner, sondern ein Künder.

In der Art seines Kündens verbindet sich das "ich" mit dem "wir". Keine private Gewißheit, kein persönliches Bescheidwissen hat er zu künden, sondern das, was gilt. Es gilt für ihn, es gilt für uns. Es ist Wahr-Sage. Die Qualität der Wahr-Sage ist der Auftrag und das Maß des poetischen, des prophetischen, des dichterischen Wortes. Die Gegenwirklichkeit dazu jene Wirklichkeit der Vernutzung und Verzweckung, von der vorhin die Rede war. Es geht dem Dichter aber nicht nur um eine bestimmte Weise des Sprechens. Es geht ihm auch um einen Inhalt. Es gibt eine Verheißung, einen qualitativen Gehalt seines "Kündens". Zuerst die Bedingungen: wir, wir alle müssen das "Gewünschte" beginnen. Wir müssen anfangen damit. Anfangen davon zu sprechen, damit die Zunge sich löst und das lösende, das erlösende Wort gefunden werden kann. Das Wort, das das Herz aufschließt - und mit ihm den Sinn. Wir müssen uns be-geistern lassen, um "höherer" Besinnung fähig zu werden. Das Wort "Besinnen" deutet darauf hin, daß es um etwas Ganzheitliches dabei geht, um etwas, das alle Sinne in Anspruch nimmt. Zugleich geht es um etwas, das höchster Aufmerksamkeit und Konzentration bedarf. Und auch der Anstrengung, der eigenen Anstrengung des Aufmerkens. Was dann geschieht, ist etwas Künftigem, gewiß. Der Dichter blickt also in die Zukunft. Aber eigenartigerweise ist es keine Zukunft im Sinne der bloßen Dehnung der Zeit nach Art des "Irgendwann". Dieses Künftige wird konditional faßbar: wenn - dann. Mit anderen Worten: wenn die Bedingungen von uns her erfüllt sind, dann ist es Gegenwart. Die Hoffnung des Dichters hat den Charakter der Erwartung: sie richtet sich auf eine Gegenwart. Auf eine Gegenwart, in der etwas, wenn ich so sagen darf, zusammenkommt und ineinander, aneinander "ins Blühen gerät": die Blüte des Himmels - und unsere Blüte kommen und beginnen miteinander. Und beide miteinander werden und sind und bleiben "dem offenen Blick", der unverzerrten Wahr-Nehmung, unverstellt - "offen". Beides geht zusammen und wird - nicht das Leuchtende bloß, nein: "der" Leuchtende.

"Komm! ins Offene, Freund!", so ruft er tatsächlich dem Freunde zu. Und mit ihm uns, jedem, jeder: Komm! Ins Offene, und natürlich ist das nicht bloß ein Landgang, wie der Titel des Gedichts vielleicht unterstellt. Sondern der Gang ins Eigene, auch das religiöse Gehen ins Eigene, das die Voraussetzung darstellt, ins Blühen zu geraten und zum Leuchtenden zu werden. Zu jenem Phantastischen, das im Johannesevangelium heute als "Sehen der Herrlichkeit Gottes" benannt wurde und das im ganzen Evangelium "Leben" heißt.

"Nehmt den Stein weg". Und dann ruft er dem Lazarus: "Komm heraus".

Wenn man von hinten in die Kirche kommt, sieht man kein Kreuz. Man sieht diesen hängenden Stein des Frederick Bunsen. Ist es der Stein vor dem Grab? Von der Seite erkennt man das Kreuz in einem Rahmen. Das könnte eine Hervorhebung sein; dann wäre das Gerahmte sozusagen das Zentrale, das Wichtigste. Aber vielleicht ist es auch anders zu verstehen. Ja fast will es mir so scheinen. "Nehmt den Stein weg" - das soll, das muß vielleicht der Zuruf sein an uns, die wir in dieser Kirche versammelt sind. Der Zuruf, der uns prophetisch auffordert, herausfordert mit dem Hölderlischen Freundeswort: "Kommt! Ins Offene". Dann tritt der, dessen Anblick wir, selbst noch im Karfreitagsbild, vernutzt haben, heraus - als "Leuchtender"; dann treten wir mit ihm heraus aus diesem Kirchenraum, als "Leuchtende": Licht der Menschen, von dem die Weihnachtsgeschichte kündet und der Osterjubel. Lebenslicht. Damit ist "Er" gemeint - damit sind wir gemeint. Amen.

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