Kleckse und andere ketzerische Farbtropfen

Frederick D. Bunsen 1993

Kleckse

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Bildnerische Gestaltung
von Künstlern und von Kindern unterscheiden sich grundsätzlich voneinander: Während Kinder eine Menge Spiel- und Experimentiermomente für sich entdecken und auf dem Weg zur Selbsterkenntnis eher unbewußt vor sich hinarbeiten, erleben und erkennen Künstler in reflexiver Weise vielfältige Differenzierungen im Kunstprozeß. Ihre philosophischen Denkansätze entsprechen dem Ansatz der Bildmedien - eine Art von Wegbeschreibung bis hin zur Vollendung ihrer Kunst. Die Entfaltung chaotischer (d.h. nicht vorprogrammierter) Arbeitsprozesse in der zeitgenössischen Kunst und der daraus entstehenden Bildmedien gehen in einer komplexen (entropischen, fraktalen) Bildordnung auf. Vordergründig ist, daß solche Bilder einen komplexen Prozeß des Schauens hervorrufen. Jeder vom Betrachter festgestellte Unterschied einzelner Bildkomponenten zu anderen macht ein modernes Kunstwerk anziehend und deshalb interessant (sinnvoll). Zum Beispiel unterscheidet sich jede Gerade von allen Nicht-Geraden (z. B. einer Kurve oder einer Zickzacklinie) und löst eine Ausschau nach bildnerischen Gegensätzen zu einem bestimmten Ausgangspunkt wie etwa einer Gerade aus.

Jede in der Kunst festgestellte Differenzierung kennzeichnet ein unbeobachtbares Zwischen, und in jeder Sphäre des Zwischen werden für den Beobachter Seherlebnisse wie Tiefe, Transzendenz, Raum und Wirklichkeit wahr. Im differenzierten Aufnahmeprozeß des Schauens wird der Künstler/Beobachter durch das Bild sich selbst gegenüber jeglichem Kunstwerk bewußt.

Komplexe Systeme wie die der Kunst können nicht mit der Projizierung bzw. Erwartung einer kunsttheoretischen Ästhetik versinnbildlicht werden. Doch die irrationale Verhaltensweise eines Systems bietet gerade das Medium für einen in der Beobachtung verhafteten Differenzierungsprozeß des modernen Kunstverstandes: Beim Verzicht auf ein Kunstbetrachtungsrezept ist der Betrachter erst recht gezwungen, existentiell zu betrachten (vgl. etwa action painting oder informelle Malerei ).

Im Malprozeß geht es um die Umsetzung von Empfindungen und innerlichen Zuständen in die Spontaneität eines kreativen Spiels. Der Zeitgeist, vorerst distanziert von einer vorausgesetzten Ordnung des ästhetisch Erhabenen, bringt im entropischen Arbeitsprozeß sich selbst zum Ausdruck. Das Verhältnis der danach entstandenen Bildmedien zueinander ist scheinbar chaotisch, ihr Bildsinn jedoch nicht!

In der modernen Gesellschaft gehört ohne Zweifel eine prozeßhafte Automatik der Empfindungen dorthin, wo eine starre Lebensordnung ansetzt (vgl. im gesellschaftlichen Kontext: Machtpositionen der Politik, der Wirtschaft, des Zeitungswesens, des Erziehungswesens) und das Existentielle des Selbsterlebens als kreatives Moment schon im Vorfeld wirtschaftlichen Zwecken geopfert wird. Dies kann nie der wirkliche Sinn und Zweck einer humanisierenden und somit freien Kunst sein.

Aus einer Standortbestimmung von Lebens- und Kunsterfahrungen neige ich dazu, Leben und Kunst als eine Einheit zu bezeichnen und zu sagen, daß Kunstprozessen innerliche Zustände zugrunde liegen und meine Form der Kunstabstraktion eine unmittelbare Umwandlung von Empfindungen ist.

Mimik ist reiner Ausdruck mittels des Körpers. Eine informelle Malerei lebt kraft ihres eigenen Ausdrucks aus den Mitteln der Farb- und Formwelt: Sie ist auch geworden, weil sie aus der Handlung geworden ist bzw. werden muß, keineswegs aber weil sie gedacht ist. Auf der anderen Seite schaffen rationale Denkprozesse Abstand zu dem ruhenden Kunstprozeß, d.h. dem Kunstprozeß in seiner Vollendung im Nachhinein, sie helfen somit, den Kunstprozeß post scriptum aus gewonnener Distanz zu begreifen. Kunstmittel (z. B. Farbe, Stifte) werden im Gedanken-freien Spiel differenzierend zum Sinn-bildenden Ausdruck geformt, während ideenhaft Gedachtes aus der Distanz zum bereits erfolgten Kunstprozeß begriffsuchend ansetzt.

Indem ich denke erkenne ich, daß ich bin. Durch rationale Denkprozesse wird der bisher erreichte Horizont der Identitätsbildung reflektiert werden können. Diese im Begriff bin verhaftete Identität ist die Verschmelzung aller bisher in mir erreichten Horizonte bzw. der zuletzt erreichten Stufe dieser Eine Kunstontologie, zwischen Leben und Kunst pendelnd, signalisiert die eigene Authentizität im Kunstwerk und kann infolgedessen zu einem Indiz für ihre eigene Bewahrheitung werden. Der Sinn einer Kunstontologie besagt also für mich, daß die individuelle Seinsgeschichte des Künstlers (Leben/Identität) eine Voraussetzung für die Lebendigkeit seiner Kunst bildet. Während des Studiums unterschied ich zwischen einem Wesen des Werdens im Kunstprozeß und einer aus den Gedanken formulierten, nachzubildenden Objektwelt. Ein Objekt (m)einer Begierde vermochte ich - schlimmstenfalls - gut zu reproduzieren, aber im Arbeitsprozeß verriet mich gleichzeitig die Unlust: Ich merkte alsbald, daß ich in der Lage war, mit rein Handwerklichem abseits von jeglichem Kunstprozeß Illusionen (Lügen) nach Wunsch zu liefern. Der eigentliche Kunstprozeß würde aber letztenendes entscheiden, ob und wann die Kunst für mich authentisch bzw. nicht erwartungskonform war (i. S. einer self-fulfilling prophecy). Die Vollendung solch einer Kunst wird durch Kunstprozesse abgewickelt und hat darin unmittelbar mit Grenzerfahrungen zu tun.

Grenzerfahrungen liefern mir eine existentielle Erkenntnis in einer Wechselwirkung zwischen dem Selbst und dem Leben, gerade weil sie die Grenzen des bisher Bekannten oder Möglichen unerwartet überschreiten. Entscheidend ist, ob der Künstler sich solchen Momenten, gleichgültig wie beunruhigend, aussetzt, d.h. sich diesen Schockerlebnissen öffnet, bis hin zum Umsetzen im Kunstprozeß. Eine Grenzerfahrung (z. B. Tod, Unfall, Liebeserfahrung, Ent-täuschung) liefert mir eine existentielle Erkenntnis mit "Aha-Effekt" und zugleich die lebensnotwendige Motivation, dieser Erfahrung un-bedingt in einer anderen Form Ausdruck zu verleihen, z.B. malen, zeichnen, lieben, schreien, weinen etc.

Die Kunst ersetzt nicht das Leben, sondern setzt es voraus. Das Kunstontologische spiegelt sich vorerst im Ausdruck des Kunstprozesses, letztenendes in der Vollendung des Kunstprozesses bis zum Kunstwerk hin. Im Erkennen (Rezeption) der eigenen Kunstprozesse bzw. im Kunstwerk wird die eigene (meine!) Seinsgeschichte, Identität spiegelnd zum Ausdruck gebracht und zugleich der bisherige Horizont der Identitätsbildung erweitert.

Der Freiheit solcher Lebensimpulse kann keine mittelbare Ideengestalt zugrunde gelegt werden. Solche Lebensimpulse werden sichtbar in der Unmittelbarkeit der Spontaneität im Kunstprozeß und danach im vollendeten Kunstwerk, d.h. die Überleitung vom unmittelbar Erlebten zur Kunstform hin ist automatisch und fließend, wie das Sprechen beim Einfall sich aus dem Emotionalen (Angst, Haß, Sorge usw.) fließend formt.

Wenn abstrakte Kunst aus der Form- und Bildgestalt in erster Linie ihren Ursprung im geistigen und emotionalen Haushalt des Künstlers verrät, dann spreche ich von einem sogenannten Meta-Expressionismus, ein Begriff, der mir durch die Struktur einer Kunstontologie meiner Erkenntnis im Kreativen am nächsten kommt. Leben und Lebensausdruck werden Kunstform und Kunstausdruck zugleich: Wo Emotionen oder Empfindungen sich selber zum Ausdruck in und mit einer Kunstform bringen, ist für mich der Formausdruck als solcher (Bildmedien) von sekundärer Bedeutung, das Emotionale als das Lebendige hat primäre Bedeutung: Zum Beispiel aus der Tiefe im Menschen drückt sich Tiefe aus, sucht dafür eine konkrete Form in der Kunst (oder in der Liebe!). Die Kunstform, durch die die Tiefe zum Ausdruck kommt, besitzt Raum, aber bezweckt keine Raumdarstellung an sich (vgl. Farbabbildungen 1-19).

Der kunsthistorische Begriff Abstrakter Expressionismus besagt, daß kraft unmittelbaren Ausdrucks der bildlichen Form Leben überhaupt unmittelbar vom Betrachter her erfahrbar ist, eben kraft seiner expressiven verfremdeten und/oder spontanen Ausdrucksweise. Leben wird auch hier nicht ausgemalt, sondern um der Erkenntnis willen eingrenzend vom Künstler abstrahiert. Die gewöhnlich vom Betrachter gesuchte Objektwelt wird verfremdet, verwandelt und schließlich neu geordnet, womit das im Leben "versteckte" Geistige wieder in dieser Art von Kunst ersichtlich wird. Durch eine Verwandlung der am Objekt orientierten Bildwelt wurde das Geistige in der Kunst Wassily Kandinskis sichtbar wahr. Abstrakter Expressionismus erlebte seinen Ausgangspunkt in der verfremdeten Farb- und Formdarstellung einer Objektwelt. Meta-Expressionismus ist mittels seines eigenen Ausdrucks die aus der Handlung entstandene Kunstform. Wo Kandinski das Geistige, ausgehend von einer abstrakten Verfremdung und Reduzierung der Objekt-orientierten Umwelt, als Leben zum Ausdruck brachte, wird im Meta-Expressionismus die Lebensdynamik selbst zu einem eigenen Ausdruck im frei erwirkten Kunstprozeß. Leben, im versöhnenden Ein-Klang - mit Spannung und Entspannung, Einatmen und Ausatmen (Inspirieren und Expirieren) - wird auch dazu hingeführt, sich selbst zum Ausdruck zu bringen.

Weder eine objektbezogene noch eine an Erhabenem orientierte Welt liefert das Ausgangsmotiv für eine gegenwärtige Kunst, eher das tägliche Leben, das allein seinen unmittelbaren Ausdruck in der Farb- und Formwelt der Bildmedien findet. Die Empfindung des Künstlers/Menschen bewegt ihn zu einem Ausdruck seiner selbst in der Hingabe/Aufgabe, so wie die Liebe den Mensch bewegt zu einem Ausdruck seiner Selbst in der Hingabe, was eine Konkretisierung (i. S. des Wesenlichen) des liebenden Selbst ist.

Kunst macht alle diese Momente sichtbar. In der Beobachtung ihrer Rezeption - als solcher - kann erfahren werden, daß und wie diese Kunst Neues mitteilt; der Bogen zum Künstler und seinem Schaffen wird lebendige Wirklichkeit - als offene, freie Kommunikation


Frederick Bunsen 1993


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