"Fuer eine Vernunft der Zigeuner: Beobachten muss man lernen"

Niklas Luhmann (8.12.1927 - 6.11.1998)

Dirk Baecker 2001

Niklas Luhmann

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In: Berliner Zeitung, Freitag 48, 20. November 1998, S. 3

Als Niklas Luhmann in einem seiner juengsten, schmalsten und erhellendsten Buecher noch einmal auf Edmund Husserl zurueckkam, dessen Lektuere ihn von Anfang an begleitet hat und dem er nicht nur zentrale Intuitionen seiner eigenen Theoriearbeit verdankt, sondern auch einen ersten Probelauf seines Zettelkastens, hatte er nur einen Einwand. Wenn man ueber "Europa" spreche, wie Husserl es 1935 in Wien in einem Vortrag getan hat, der unter dem Titel "Die Krisis der europaeischen Wissenschaften und die transzendentale Phaenomenologie" beruehmt geworden ist, dann duerfe man aus diesem Europa "die Zigeuner, die dauernd in Europa herumvagabundieren," nicht ausschliessen. Husserl hatte den Eindruck, dass sich nur unter den Bedingungen eines solchen Ausschlusses von der "geistigen Gestalt Europas" wuerde reden lassen. Luhmann widerspricht: Das Projekt einer selbstkritischen Vernunft, das Luhmann von Husserl uebernimmt und das sich bei beiden gegen die "faule Vernunft" des naiven Rationalismus des 18. Jahrhunderts wendet, zielt auf eine ironische Vernunft und damit auf die Vernunft genau jener Zigeuner, die in Europa herumvagabundieren.

Nachlesen kann man das in dem Buch "Die neuzeitlichen Wissenschaften und die Phaenomenologie", das aus einem Vortrag entstanden ist, den Luhmann zum 60. Jahrestag der Krisisvorlesung von Husserl ebenfalls in Wien gehalten hat. Luhmann war wahrscheinlich einer der besten Kenner des "faulen" Rationalismus des 18. Jahrhunderts, der sich in Politik und Wirtschaft bis heute fuer den Stein der Weisen haelt. Er partizipierte an diesem Rationalismus sogar auf seine Weise, wenn er nach wie vor am Projekt der "Aufklaerung" festhielt. Zugleich jedoch schaerfte sich seine eigene Beobachtungskunst gesellschaftlicher Phaenomene an jener Tradition des franzoesischen "Moralismus" (zum Beispiel des Marquis de Vauvenargues), die dieser Aufklaerung um nichts in der Welt ueber den Weg traute. Deswegen gab Luhmann seiner Arbeit den Titel einer "soziologischen Aufklaerung".

Soziologie ist Aufklaerung, so hat er erlaeutert, wenn sie die Gesellschaft anders beobachtet, als diese sich selbst beobachtet. Sie ist Aufklaerung, wenn sie in der Lage ist, das Problem der Latenz aufzuwerfen, das heisst zu beobachten, dass die Leute sich in der Gesellschaft literarisch, ideologiekritisch und psychoanalytisch geschult auf verborgene Ursachen ihres Handelns hin beobachten und damit Effekte erzielen. Sie ist Aufklaerung, wenn sie es schafft, von Faktortheorien, die beobachtbares Verhalten auf bestimmte Ursachen zurueckfuehren (Koerpersaefte, Klima, Interessen, Beduerfnisse, "die" Wirtschaft...), ueberzugehen zu Systemtheorien, die von Komplexitaet ausgehen und beobachtbare Systeme auf die Wirksamkeit von Einschraenkungen zurueckfuehren, die von den Systemen selbst hervorgebracht werden. Und sie ist Aufklaerung, wenn sie, wie Luhmann so schoen formuliert hat, "ihre eigentuemlichen Schwierigkeiten in der funktionalen Methode hat," das heisst wenn sie Phaenomene funktional erklaert, dabei aber im Auge behaelt, dass sie es ist, die funktional erklaert, und andere Beobachter moeglicherweise andere Funktionen sehen. An die Stelle des naiven Rationalismus tritt das Projekt einer selbstkritischen Vernunft. Diese Vernunft kommt nicht darum herum, ihre eigene "europaeische" Abkunft und damit den fuer sie typischen Glauben an die Notwendigkeit, nur mit Hilfe von Unterscheidungen "clare et distincte" denken und argumentieren zu koennen, in Rechnung zu stellen. Andere Traditionen, zum Beispiel die buddhistische, setzen die Ablehnung von Unterscheidung an den Beginn des Denkens und kommen daher auch zu ganz anderen Formen des Denkens - zu Formen, deren Form wir daher auch meist gar nicht erkennen koennen. Deswegen war Luhmann an dem mathematischen Kalkuel von George Spencer-Brown so interessiert. Denn hier wird vorgefuehrt, wie es moeglich ist, in die Unterscheidungen den Zweifel ueber die Unterscheidungen, ja sogar die Oszillation der Unterscheidung wieder einzufuehren. Mit dieser Figur gelangt Luhmann ueber die europaeische Denktradition hinaus, der er im Kapitel "Selbstbeschreibung" (der Gesellschaft!) seines kroenenden Hauptwerks "Die Gesellschaft der Gesellschaft" (1997) ein fulminantes Denkmal gesetzt hat.

Niklas Luhmann gilt zusammen mit Talcott Parsons als die fuehrende Figur der soziologischen Systemtheorie. Und dies zurecht, obwohl es der Rezeption seines Werkes mehr im Wege stand als ihr foerderlich war. Denn kaum jemand kann sich dem Eindruck entziehen, dass "System" etwas mit "Systematik" zu tun hat und dass sich da jemand in ein gigantisches Projekt verstrickt hat, die Komplexitaet der Gesellschaft fuer sich in eine moeglichst uebersichtliche Ordnung zu bringen. Und in der Tat denkt man an Hegel, wenn man in einem Interview mit Luhmann die Absicht liest, die Einheit der Gesellschaft aus der Einheit der Begriffe beweisen zu wollen, die sich an den unterschiedlichsten Phaenomenen bewaehren.

Freilich ist damit nicht die hegelsche Einheit des abschliessenden und alles andere in sich fassenden Begriffs gemeint, der dann nur noch in die Sittlichkeit und den Staat uebersetzt werden kann. Sondern es ist damit die Einheit jener "selbstaehnlichen" Strukturen oder Mechanismen gemeint, die die mathematische Chaostheorie und die Theorie der Fraktale beschreiben: Strukturen oder Mechanismen, die auf jeder Ebene und in jedem Phaenomen wieder vorkommen, gleichgueltig wie grob oder fein die Optik eingestellt wird und gleichgueltig in welche Richtung man schaut.

Natuerlich erkennt man an dieser Einheit die Einheit der eigenen Beobachtungen und nichts anderes als das. Aber die entscheidende Frage ist, was diese Beobachtungen zu erkennen geben. Denn schliesslich sind wir auf die Beobachtung von Beobachtungen angewiesen, wenn wir ueber die Welt ueberhaupt etwas herausfinden wollen. Wenn wir einfach nur irgendwo hinschauen, sehen wir gar nichts, wie man in jedem Museum, in jedem Theater, an der Boerse, in einer Kirche, bei einer Psychotherapie oder auch in einem Klassenzimmer ausprobieren kann. Man muss sich in die Beobachtungen der Kunstbetrachter, Zuschauer, Spekulanten, Glaeubigen, Therapeuten oder Lehrer einklinken, um ueberhaupt etwas zu sehen, und hat dann immer noch die Wahl, sich lieber an die Kuenstler, die Schauspieler, die Teepfluecker, die Priester, die Kranken oder an die Schueler zu halten, um herauszufinden, was in den jeweiligen Situationen passiert.

Der amerikanische Soziologe Harrison C. White, in seiner Beschreibungsstaerke und theoretischen Imagination gegenwaertig in der Soziologie der einzige Mitspieler Luhmanns, hat auf der Suche nach den selbstaehnlichen Strukturen des Sozialen die Formel entwickelt, jede soziale Ordnung sei eine Hackordnung, die so tut, als waere sie keine. Luhmann wuerde wahrscheinlich eher eine seiner fruehen Formulierungen aufgreifen, die behauptet, dass die Loesung des Problems zwischenmenschlichen Verhaltens nicht in der Verhaltenskoordination liegt, sondern in der Koordination von Erwartungserwartungen. Soziale Phaenomene sind dann stabil, wenn alle Beteiligten wissen, welche Erwartungen der anderen sie zu erwarten haben. Der Lehrer, der eine Klasse betritt, verlaesst sich darauf, dass die Schueler von ihm erwarten, dass er von ihnen erwartet, dass sie von ihm erwarten, ihnen mit der dann schon gar nicht mehr noetigen Autoritaet gegenueberzutreten. Diese Erwartungserwartungen machen die Situationen so robust, wie sie sind, nicht irgendwelche eher zufaelligen Verhaltenskoordinierungen.

Die Frage ist also, was man davon hat, wenn man versucht, sich hinter Luhmann zu stellen und ihn bei seinen Beobachtungen von Erwartungserwartungen zu beobachten. Leicht ist das uebrigens nicht, denn zunaechst sieht man dabei genau so wenig, wie man etwas hoert, wenn man zum ersten Mal ein Musikstueck in Zwoelftontechnik hoert, oder etwas begreift, wenn man sich "junge britische Kunst" anschaut. Beobachten muss man lernen, welchen Sinn auch immer sie betreffen. Deswegen bietet Luhmann zunaechst einmal mehr Schwierigkeiten als Erleichterungen an. Das relativ einfache Theorem der Erwartungserwartungen findet sich inzwischen entfaltet in eine Begrifflichkeit, die aus der Systemtheorie, der Evolutionstheorie und der Kommunikationstheorie stammt und in der Worte wie "Selbstreferenz", "Fremdreferenz", "operative Geschlossenheit", "Autopoiesis", "Funktion", "binaere Codierung", "strukturelle Kopplung" und so weiter vorkommen, die zunaechst einmal das ganze Gegenteil einer Begrifflichkeit zu sein scheinen, die sich der Subtilitaeten gesellschaftlicher Ordnungen annehmen kann.

Ob diese Begriffe etwas leisten und was sie leisten, muss man ausprobieren. Luhmann hat sich dieser Muehe in dreissigjaehriger Arbeit unterzogen und man muss feststellen, dass die Ergebnisse seiner Beschreibung etwas der "Liebe als Passion", der "Knappheitsparadoxie des Geldes", der "Kommunikation von Nichtwissen", des "Paradoxes der Inkommunikabilitaet" oder der "unwahrscheinlichen Evidenz der Kunst" so subtil sind, dass die Beobachter, die ihn beim Beobachten beobachten, lange Zeit weder die Phaenomene noch die Begriffe verstanden haben.

Er hat daher immer wieder Angebote gemacht, aus seinem Gesamtprojekt der Gesellschaftstheorie einzelne Stuecke herauszubrechen und sie mit heruntergeschraubten begrifflichen Anspruechen etwa an der Problematik des Wohlfahrtsstaats, an der Gefaehrdung der Gesellschaft durch oekologische Probleme, an Phaenomenen riskanter Entscheidungen in den grossen Organisationen dieser Gesellschaft oder am Einfluss der Massenmedien vorzufuehren und anderen Beobachtern schmackhaft zu machen. Allerdings hat er dabei keine Kompromisse gemacht, so dass spaetestens am meist provokativen Gehalt seiner Beobachtungen erstens der Hintergrund seiner Theoriearbeit erahnbar wurde und zweitens die Beobachter Gruende sammeln konnten, es lieber mit anderen Theorien zu versuchen. Man riecht den Schwefel, wenn man seine Aufsaetze zur Religion liest, sagte ein Theologe einmal, kurz bevor er auf weitere Lektuere verzichtete und dies auch allen anderen Theologen empfahl. Und so geht es Paedagogen, die sich dabei ertappt sehen, dass sie es gut meinen muessen, Politikern, die nicht bereit sind, darauf zu verzichten, sich im Moralschema auf der besseren Seite zu verorten und dies auch zu kommunizieren, Juristen, die keine Antwort auf die Frage finden, ob die Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht rechtens oder unrechtmaessig ist, Oekonomen, die nicht einsehen koennen, dass es irrational sein kann, an die Rationalitaet der Knappheitspreise zu glauben, Frauenforscherinnen, denen Luhmann nachwies, dass die von ihnen gesuchte "Weiblichkeit" auf die "Frau ohne Eigenschaften" hinauslaufen muss, wenn man nicht in die Falle einer "maennlichen" Unterscheidungspraxis laufen will, und neuerdings Kulturwissenschaftlern, denen Luhmann zeigt, welch ein vertracktes Theoriemanoever in einem Kulturbegriff steckt, der fuer sie deswegen attraktiv ist, weil sie ihn fuer theoriefrei halten.

Vielleicht unternahm man noch den Versuch, Luhmann zu einem Vortrag oder zu einer Konferenz einzuladen, und machte dann die Erfahrung eines liebenswerten, liebenswuerdigen und humorvollen, freilich auch ironischen Menschen - und verlor endgueltig den Boden unter den Fuessen beim Versuch, ihn dabei zu beobachten, wie er beobachtet.

Luhmann hat keinen Zweifel daran gelassen, dass Politik und Wirtschaft, Erziehung und Wissenschaft, Recht und Religion, Kunst und Familie heute vielfach am Ende ihres Lateins sind, von den Organisationen, die sich ueberall hilfreich anbieten, zu schweigen. Das grossartige Manoever seiner Systemtheorie, die keine Theorie ordentlicher Systeme, sondern eine Theorie unzuverlaessiger Systeme und vor allem eine Theorie der immer prekaeren und immer neu durchzusetzenden Differenz von System und Umwelt ist, besteht darin, die Systeme sich vorzufuehren und sie darauf hinzuweisen, dass die Umwelt, deren Komplexitaet sie subtil und fahrlaessig, raffiniert und blind reduzieren, von anderen Beobachtern auch anders beobachtet werden kann. Die Wiedereinfuehrung dieser Beobachtungen war das Projekt seiner soziologischen Aufklaerung. Und nur, weil es ihm um die Gesellschaft ging, legte er so viel Wert darauf, eine Beobachtertheorie zu schreiben. Wenn er sich dann doch darauf konzentrierte, nicht die Zigeuner, sondern Kommunikationen der Macht, des Vertrauens, der Liebe, des Rechts, des Wissens oder der Entscheidung zu beobachten, so deswegen, weil fuer ihn jede dieser Kommunikationen eine in nichts mehr hierarchische, sondern durchweg rhizomatische Struktur verkoerperte.

Wenn er einmal geschrieben hat, dass die Leute in unserer Gesellschaft dazu neigen, es sich in der Interaktion gemuetlich zu machen, innerhalb der Organisationen zu resignieren und sich die Gesellschaft mit Kritik vom Leibe zu halten, dann war dies durchaus ernst gemeint. Und es erklaert, dass man es sich mit ihm persoenlich, wenn man ihn nicht gerade in Italien traf, nie gemuetlich machen konnte. In den Organisationen, mit denen er es zu tun hatte, vor allem in der Fakultaet fuer Soziologie der Universitaet Bielefeld, der er bis zur Emeritierung treu blieb, war er zwar nie bereit zur Resignation. Anlass genug haette es dazu gegeben. Aber Engagement war seine Sache auch nicht, nachdem er in den ersten Jahren merken musste, dass die Reform der Fakultaet jeder Zusammenarbeit zwischen Assistenten und Professoren im Wege stand. Und natuerlich hatte er ueberhaupt keinen Sinn fuer die Geste der Gesellschaftskritik, wenn die Kritiker nicht wenigstens ansatzweise so informiert waren, dass es sich lohnte, sie beim Kritisieren zu beobachten.

Niklas Luhmann gilt als Systemtheoretiker. Darum glaubt man, mit seinen Begriffen auch in anderen Faechern rasch theoretische Erfolge erzielen zu koennen, und taeuscht sich dabei oft bitter. Tatsaechlich war er vor allem Soziologe. Er hat auf diese Gesellschaft reagiert wie kein anderer. Er hat sich in der Gesellschaft der Gesellschaft nicht wirklich wohl gefuehlt. Aber er konnte dieser Gesellschaft nichts uebel nehmen, weil nichts seinen Scharfsinn so herausforderte wie sie.

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