"Geständnisse eines Zeichens"

Frederick Bunsen 2007

Bunsen: Poster von 2007

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Und auf einmal wurde ich Zeichner.

Wann dies mir bewusst wurde, weiß ich nicht mehr zu sagen. Berufen wurde ich in den Stand der Künstlerschaft durch eine in dieser Gesellschaft vorgeschriebene Bildungsinstanz. Doch zur inneren Berufung gelangte ich über solide Vorbilder. Fachkundig lernte ich auch beobachten, nämlich wie mein erfahrener Meister sein Medium, sich selbst oder mich beobachtete und ebenfalls, wie ich dasselbe tat; in die Welt hinein zeichnend, auch heute noch so, als ob ich in dieser Welt noch nicht angekommen wäre. Ich zeichne immer weiter.

Einstmals schien mir die Kunst der Zeichnung wie eine Art geomantische Erfassung zu sein. Ihre Sinnbilder wirkten nachhaltig auf mich, und ich lag der Versuchung nah, sie mit übernatürlichen Kraftfeldern belegen zu wollen. Vom Seherischen her zu sprechen wäre die Sinneskraft der Beobachtung näher gelegen. Ihre Gegenwart (der Zeichnung) stützt sich auf die Vermittlung von Sinn und indem sie auch beobachtet wird. Höchst bemerkenswert, wie sich in jeder Zeichnung aus der Ausrichtung von geordneten Linien und Flächen automatisch Knotenpunkte, d.h. Verbindungen zueinander bilden. Immerhin sind das eben beobachtete Zusammenhänge, die mehr an Belang verursachen als die einzelnen Komponenten, woraus sie zusammengesetzt sind.

Mit anderen Worten, vertiefe ich mich in eine Zeichnung, springt mein Auge automatisch über das Bild hin und her, und ich bringe fortlaufend zwei oder mehrere völlig getrennte Bildkoordinaten zusammen. Durch die Zusammenführung z.B. von zwei völlig voneinander abgekoppelten Linien kann ich u.a. Bildtiefe und Bildraum erleben. Dadurch wird Grafik, gar Kunst wirklich interessant. Es ist nicht anders als bei einem Krimi, wenn ich beobachte, dass der Held unversehens mit seinem Antagonist zusammenstößt, bevor er es selber merkt. Auf die Zeichnung bezogen: Ewig steuern antagonistische und protagonistische Zeichen spannungsvoll aufeinander zu, und ich darf mir persönlich ausmalen, wie mein momentan fokussiertes Bildscenario ausgeht, bzw. in Sinne der Bilddekonstruktion, was sie in diesem Augenblick ausmacht. Immer wieder hat es sich bestätigt, dass ein gutes Bild eine sehr große Zahl an möglichen Auslegungen bzw. Sinnbildungen freisetzt.

Auch als Bildautor freue ich mich daran zu spüren, wie meine Hand während des Schaffens geführt wird, wie die Linien sich selbst aufzeichnen in einer Handlung des aus sich selbst hervorgehenden Werdens. Diese Art der Selbstreflektion hat ohne Zweifel mit der Bildsteuerung zu tun. Mit verbalen Formulierungen verhält es sich ähnlich, denn mein Sprachfluss wird auch nicht vor dem Sprechen formuliert. Er wird aber trotzdem gesteuert! Zwar wird meine Hand ersichtlich von mir zeichnerisch geführt, aber nur so, dass sie zum Beispiel in einem energisch aufgedrückten Ton oder durch Inflektion der Linie ein Zeichen vom Stift hergibt. Der Schlüssel ist: ich unterscheide alle meine Striche voneinander und auf vielerlei Weisen. Ich behalte sie alle im Blick, ob während des Zeichnens oder auch danach!

Es überrascht mich nicht, dass ich im Laufe des Schaffens zu meiner Zeichnung werde. Während des Zeichnens kommuniziere ich mit der Zeichnung und sie mit mir, was nicht anders heißt als, ich beobachte mich selbst! Gleichwohl wird diese intime Erfahrung nicht ausschließlich bedingt durch ihre gesteuerte Ausführung. Wird die Zeichnung jemals fertig, wird diese primär von mir gewonnene Identität noch durch weitere Beobachtungen ergänzt, zum Beispiel, indem die Zeichnung von anderen rezipiert wird, oder indem ich sie außerhalb von mir in zweiter Beobachtungsinstanz als Neues entdecke - als ob ich sie nie gesehen hätte. Wegen meiner Beobachtung während des Zeichnens (Steuerung) und schließlich der entstandenen Zeichnung, verschmilzt Selbst und Werk zu einer globalen Form, worauf diese selbstunterscheidende Erfahrung explizit verweist.

Meine für die Zeichnung typische Initialzündung setzt an mit einer wesentlichen Unterscheidung. Und zwar werden immer drei Haupttonwerte im Auge gehalten, mindestens eine Tonstufe von Grau, Weiß und Schwarz. Weiterhin wird zwischen dünn und fett, gradlinig oder kurvig unterschieden - von strukturellen und texturellen Ansätzen gar nicht zu sprechen. Nichts muss illustriert werden. Von einer berechnenden Vorkenntnis losgelöst bleibe ich frei zu beobachten und zu unterscheiden während meine Zeichnung sich anbahnt. Allerdings müssen dessen ungeachtet sogar die kleinsten Nuancen so angebracht werden, dass sie von anderen grafischen Charakterzügen im Bild zu unterscheiden sind. Mit der Entstehung von bildhaftem Raum und Zeit weitet sich meine Art zu beobachten aus - von der Art, die für die Bildsteuerung wichtig ist, zu einer Art Beobachtung, die für die Differenzierung von Sinn erforderlich ist.

Wem in der Früherziehung beigebracht wurde, Gegenstände mit einem Umriss darzustellen, der will womöglich in späteren Jahren die Kunst oder die Ästhetik ausschließlich in Verbindung mit der Darstellung bzw. der Illustration setzen. Demgegenüber lässt sich die systemische Legitimität meiner Zeichnung nur schwer begreifen oder übermitteln, da wo sie mit einem dargestellten Gegenstand nichts gemeinsam haben will (vgl. Zeichnungen von Vols, Hartung, Sonderborg oder Twombly). Mangels einer bildlichen Darstellung muss der Betrachter einen anderen Vorgang zur Sinnerschließung suchen, jenseits der von Ratio geprägten Konvention oder des momentanen persönlichen Grades der eigenen Bildung. Sollte trotzdem eine darstellende Umfassung eines nicht vorhandenden Bildgegenstandes versucht werden, wird die Kunstabstraktion in diesem Fall mangels einer treffenden Beschreibungsweise ad absurdem geführt. Wer auch eine Zeichnung beliebig quantifiziert, wird ihrem Potential als Sinn-Schöpfer nicht vollends nachgehen können. Die Versuchung liegt nah, Begriffe wie Kunst und Künstler zur selbstgefälligen Würdigung des eigenen Egos mit grotesken und verdrehten Inhalten preiszukrönen.

Stattdessen regt meine von mir praktizierte Sehanleitung an, sich am System des Zeichnens bewusst zu beteiligen und sich ins Spiel der fortlaufenden Unterscheidungen einzubringen. Mit dieser Art Beobachten werden die Augen geschärft. Es wird zu einer Frage von Interesse und Zeit. Auf natürliche Weise kann der Beobachter so viele grafische Instanzen im Bild wahrnehmen, wie er an Komplexität gleichzeitig ertragen will. Auf der Basis jenes bereits gewonnenen Sinnbildes schließen sich noch weitere Beobachtungen an, zu einer stetigen Verschmelzung von sinnvollen Unterscheidungen. Um sich in diesen Vorgang zu begeben, bedarf es weder eines psychischen Verständnisses der eigenen Subjektivität noch einer kunsthistorischen Exegese. Es beginnt mit der Begeisterung für beispielsweise eine einzelne, spärliche Chiffre. Sinn macht offensichtlich mehr aus, als der Mensch überhaupt erfassen kann, weshalb dieser Begriff weder als eine bloße Objekterkennung noch als eine Subjektdarstellung ausgelegt werden kann.

Wer nach dem Bildsinn (wer spricht überhaupt von Kunst?) Ausschau hält, über das sogenannte Erkennbare hinaus, wird an die Unterscheidung und Zusammenführung von ausgewählten grafischen Komponenten verwiesen. Der Beobachter kommt auf einen Geschmack bzw. Sinn, wenn er bemerkt, dass jeder vom Künstler beschlossene Strich im Vergleich stets einmalig erklingt. Und weil der Betrachter seine eigene Auswahl trifft, ist er umso mehr ein berechtigter Teil des Bildsystems. Noch einmal: Nur wenn ein Betrachter ihm auffallende grafische Bildchiffren bzw. Bildkoordinaten in Zusammenhang miteinander bringt, wird Neues für ihn entstehen. Die Beobachtung dieser im Bild angebotener Formen, so wie auch ihrer momentan hervorgehenden Zusammenhänge bedarf keiner Erklärung. Ohne weiteres erlaubt des Beobachters eigene Erkenntnis zu jeder Zeit seine freie, spontane Mitteilung im Dienste einer unaufhaltsamen, innermenschlichen Kommunikation.

Rottenburg a.N. im Juli 2007.


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