"Wenn ich auf den Strich sehe"

Eine neue Erfahrung von Wirklichkeit und Welt in der Kunst von FD Bunsen

Catherine Raitz 2007

Poster von 2007

Beitrag Michael Krämer zum selben Posterbild
Beitrag Helge Bathelt zum selben Posterbild
Beitrag Frederick Bunsen zum selben Posterbild

Zum Autoren23-Mrz-2021 08:17 AMverzeichnis
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Natürlich weiß ich seit dem Kunstunterricht meiner Schulzeit, dass eine künstlerische Zeichnung ein Bild ist, das mit Linien und Strichen etwas darstellt. Vom Studium der Philosophie in Marburg weiß ich auch: Zeichnung zeigt Zeichen, Zeichen zeigen Sein und Seiendes. Aber was fühle ich heute, viele Jahre später, wenn ich auf die Zeichnungen wie die des Stuttgarter Künstlers FD Bunsen sehe? Wie wirken sie auf mich? Wie verändern sie mein Sehen von Welt?

Ich suche zunächst, ob ich einen Haltepunkt, etwa einen Titel finden kann, der meine Mühe des Begriffs unterstützt. In der Zeichnung "Eros und Thanatos" (publiziert in: FD Bunsen [Hrsg.], "ohne titel". Neue Orientierungen der Kunst, Würzburg 1988, 33) wird ein Bildtitel vorgegeben, mit dem ich mich auseinandersetzen kann. Bei den neueren Zeichnungen Bunsens ist das jedoch anders. Systemtheoretisch orientiert, formt der Künstler - darin wahrlich ein Schöpfer - Lineaturen und Striche abstrakt und reduktiv zu einer systemischen Ganzheit, die unbewusst und auch bewusst mit dem Instrumentarium der Luhmannschen Systemtheorie die einzelnen Elemente arrangiert. Titel, auch in der Art, wie sie R. Magritte seinen Werken gab, wären hier irreführend. So liegt es an mir, diese(n) Titel selbst zu formulieren.

Auffallend bei diesen Zeichnungen bleibt ihre überwiegend ästhetisch-performative Gestaltung. Eine kritische oder gar politische Orientierung erscheint nicht. Vermutlich ist das ein "Existentialismus der Form", der kulturell-politische Provokationen um der Schönheit und der Form willen ausblendet. Es müssen ja nicht die kurvigen Striche einer bananenverzückten Zonen-Gaby auf der Titanic sein, auch nicht die perfekten Formen einer geiligen Schwester G. bei ihren mystischen Orgasmen auf der Liebesschaukel, aber etwas Chilisauce kann doch noch - durch die Konnotationen der Betrachterin - in die Zeichnungen kommen ...

Aber, so lässt sich fragen, ist es nicht pure Banalität, solche Gebilde, die "Zeichnungen" genannt werden, anzuschauen? Nein, keinesfalls! Denn indem ich sehend diese Linien, Striche und Farben in mich selbst aufnehme, geben sie - empirisch messbare - Impulse für mein Fühlen und Denken. Geistige Klaviersaiten werden zum Schwingen angeregt, fügen sich zu neuen Stimmungen und Klangfarben, neue Vernetzungen des Bewusstseins werden geschaffen. Alles Leben ist ja Schwingung, und die Zeichnung, die ich betrachte, ist insofern ein Ferment des Geistes, eine Vibratio spiritualis - eine spirituelle Schwingung. Die Elementarteilchen der Zeichnung schaffen so auch einen neuen Rhythmus, der auch nach der Betrachtung noch weiterschwingt.

Zeichnung, so konkret erfahren, führt auf Wesentliches zurück - nämlich auf eine immer wieder neue Erfahrung von Wirklichkeit und Welt. Paul Klee prägte 1920 den klassischen Satz: "Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar."

Nehme ich in dieser Weise eine Zeichnung Frederick Bunsens auf, kann sich meine Sicht der Welt ändern. Indem ich mich auf und in diese Zeichnung betrachtend los-lasse und ein-lasse, mit ihr kommuniziere, ereignet sich in mir selbst etwas: Neue Bilder von Welt und damit von mir selbst entstehen. Es sind innere Bilder, die freimachen können von bisher Gesehenem und Gedachte, ein katathymes Bilderleben (H. Leuner), das Verborgenes heilsam wieder sichtbar macht und neue Horizonte entdecken lässt. Zeichnungen vermitteln Imaginationen, die beide Gehirnhälften gleichzeitig aktivieren; ich werde dadurch ganzheitlicher und kreativer. Und auch eine postmoderne Existenzphilosophie mit Schopenhauer-Kur wird ermöglicht: ""Fi(n)go, ergo sum" - frei übertragen: "Ich zeichne, also bin ich." Es lebe Carl Gustav von Küsnacht!

Damit lässt sich schließlich auch ein weiterführender Beitrag zur aktuellen Kontroverse um "Die Wüste des Realen" in der Kunst formulieren, wie sie anlässlich der documenta 2007 in der Süddeutschen Zeitung [Eva Karcher: Willkommen in der Wüste des Realen, SZ Nr. 130 vom 9./10. Juni 2007] vorgetragen wurde. Zeichnungen wie die von FD Bunsen schaffen das dort für die Kunst geforderte Vorrecht einer Distanz zur Realität, den Freiraum der Illusion, der Imagination und der Träume. Ich gönne mir die Freiräume und Imaginationen, welche die Zeichnungen angeregt haben.

In ihrem Verweisungsüberschuss liegt bekanntlich der Sinn von Kunst. Indem die Zeichnungen von FD Bunsen Sehen und Denken auf Wesentliches konzentrieren, vermitteln sie diesen Sinn. Ich sehe daher oft und liebevoll auf den Strich.


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